Siedlergewalt im Westjordanland: Bis sie gehen

Nr. 45 –

Seit dem Massaker der Hamas hat sich die Gewalt der israelischen Siedler:innen im Westjordanland verschärft. Eine Nacht im palästinensischen Dorf Shi’b al Batum – inklusive Militärkontrolle.

Israelische Soldaten an einer Strassensperre im Westjordanland
Schutz für die Siedler:innen, Schikanen für die palästinensischen Dörfer: Israelische Soldaten an einer Strassensperre im Westjordanland.

In der Dunkelheit der Nacht wirkt Shi’b al Batum wie ein friedliches Dorf. Die Konturen eines Hügelkamms zeichnen sich ab, am Himmel leuchtet der Halbmond. Aus einem Stall kommt ein Scharren, dann leise Eselslaute. Ein paar jüngere Dorfbewohner sitzen noch um drei Uhr morgens auf roten Plastikstühlen ums Lagerfeuer. Sie spielen Handygames, schlürfen süssen Tee, rauchen Wasserpfeife.

Plötzlich durchdringt das Geräusch eines Motors die Stille. Auf dem Hügel, der dem Dorf gegenüberliegt, bewegt sich ein ratternder winziger Lichtpunkt bergab und wieder bergauf. Es ist die nächtliche Patrouille der jüdischen Siedlung Abigail, aus der die Dörfer in der Umgebung immer wieder von orthodox religiösen Extremisten angegriffen wurden. Nach einigen Augenblicken verstummt der Motor wieder. Aufatmen. Die Nacht verläuft ruhig. Niemand ahnt, was der Morgen bringen wird.

Wer in Israel und den palästinensischen Gebieten etwas über die Zukunft erfahren will, sollte nicht in Tel Aviv, sondern in den Dörfern des Westjordanlands nach Antworten suchen. Entwicklungen, die später das ganze Land beeinflussen werden, beginnen meist an kleinen Orten wie Shi’b al Batum, wo lange niemand hinschaut.

Ganze Dörfer vertrieben

Shi’b al Batum liegt in der Hügellandschaft von Masafer Jatta, südlich der Stadt Hebron. Die Häuser der kleinen Siedlung sind Lehmhütten mit Blechverschlägen. Fliessendes Wasser gibt es nur wenig, überall liegt Plastikmüll. An den Hängen der Judäischen Wüste hüteten die Hirten früher ihre Ziegen und Schafe. Seit dem 7. Oktober traut sich das niemand mehr – damit die Tiere nicht verhungern, kauft man für sie stattdessen Futter.

Das Territorium, auf dem Palästinenser:innen und Siedler:innen nebeneinander leben, heisst seit dem Osloer Friedensprozess der neunziger Jahre Zone C und macht mehr als sechzig Prozent des Westjordanlands aus. Für jüdische Siedler:innen und Palästinenser:innen gelten hier auf demselben Gebiet unterschiedliche Rechtsordnungen.

Die Ruhe in der heutigen Nacht trügt. Nichts von dem, was sich im vergangenen Monat in und um das palästinensische Dorf Shi’b al Batum zugetragen hat, war friedlich. Während alle Augen auf Gaza gerichtet sind, sind extremistische Siedler:innen aus Abigail und anderen umliegenden Siedlungen damit beschäftigt, ihre Herrschaft über das ländliche Westjordanland mit Gewalt zu verfestigen. Sie drängen die palästinensischen Dorfgemeinden dazu, ihre Ländereien zu verlassen. Diese Strategie ist nicht neu. Sie ist Teil der israelischen Expansionspolitik, die sich durch die rechtsradikale Regierung im vergangenen Jahr, vor allem aber nach dem Terrorangriff der Hamas verschärft hat.

Knapp 900 Palästinenser:innen aus 32 Dörfern haben laut der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem im letzten Monat ihr Zuhause aufgegeben – viele von ihnen wissen nicht, wohin sie gehen sollen. So auch die 150 Einwohner:innen des benachbarten Dorfes Sanuta, die letzte Woche ihr Hab und Gut auf Lastwagen packten.

«Wir bleiben. Das hier ist das Land meines Grossvaters», sagt Ischak, mit 64 Jahren der Dorfälteste von Shi’b al Batum, abends am Lagerfeuer. Es klingt wie eine Kampfansage. Die jüngeren Männer, die zum Lagerfeuer hinzustossen, küssen ihm zuerst die faltige Hand, dann die Stirn. Die Kinder des Dorfes kichern und hüpfen, die Mädchen machen Klatschspiele. Zum Abendessen bereiten die Frauen Reis und Hühnchen zu. Auch in den schwierigsten Situationen klammern sich die Menschen an ihren Alltag.

Israelis als Wache

Das Ausmass der Siedlergewalt dokumentiert die israelische Menschenrechtsorganisation Yesh Din. Zwischen dem 7. Oktober und dem 2. November zählte sie 172 Vorfälle, verteilt auf 84 palästinensische Gemeinden – eine unvollständige Liste. Die Uno-Nothilfekoordination Ocha spricht von einem Anstieg von drei auf sieben Angriffe pro Tag.

Siedler schiessen mit ihren Sturmgewehren auf die Dorfbewohner:innen. Sie zünden deren Häuser an, töten Schafe, holzen Olivenbäume ab, zerstören Solaranlagen und schlagen Fenster ein. Häufig dringen maskierte Angreifer nachts ins Dorf ein und überraschen die Bewohner:innen mit Gewaltakten. Die Menschen in den Dörfern bleiben auf sich allein gestellt. Laut Angaben der Uno im September dieses Jahres reagierte die israelische Polizei nur auf sechs Prozent der Beschwerden gegen Siedlergewalt.

Zum Schutz kommt in einige der Dörfer eine Handvoll israelische Aktivist:innen zur Nachtwache – durch ihre Anwesenheit versuchen sie dort, wo die Gewalt am akutesten ist, das Schlimmste zu verhindern. Heute Nacht übernachten fünf Israelis in Shi’b al Batum, alle anderthalb Stunden wechseln sie sich mit der Wache ab. Auf dünnen Matratzen schlafen sie alle gemeinsam auf dem Steinboden in einem der Häuser.

Am Nachmittag, so berichten es die Dorfbewohner:innen, war eine Gruppe von Siedlern ins Dorf gekommen. Sie hätten einem der Bewohner das Handy aus der Hand geschlagen und zerstört. Seine Familie solle das Dorf verlassen, drohten sie, oder sie würden ihn umbringen. Auch im Nachbardorf Tuba stellten die Siedler den Einwohner:innen ein Ultimatum: 24 Stunden hätten diese Zeit, um ihr Zuhause zu verlassen, oder sie würden zurückkommen und sie töten. Die Einwohner:innen von Tuba blieben.

Die Zone C des Westjordanlands steht unter israelischer Militärverwaltung. Soldaten sollen hier durch ihre Anwesenheit für Deeskalation sorgen und die Siedler:innen beschützen. Aber die Unterscheidung zwischen Soldaten der israelischen Armee und Einwohnern der Siedlungen verschwimmt seit Kriegsausbruch zunehmend. Beide Gruppen sind bewaffnet. Viele der Siedler:innen werden in und um ihre Heimatsiedlungen herum für den Reservedienst eingesetzt. Andere schliessen sich selbstorganisierten lokalen Patrouillen an, manchmal tragen sie Armeeuniformen. Oft bleibt unklar, wer zu wem gehört, sagen die Dorfbewohner:innen wie auch die Aktivist:innen.

Seit dem 7. Oktober sind gemäss der International Crisis Group 135 Palästinenser im Westjordanland erschossen worden, die meisten durch Soldaten, einige durch Siedler. Dutzende Videos, die in den vergangenen Wochen veröffentlicht wurden, dokumentieren selbstgefilmte Erniedrigungen und Misshandlungen von Palästinensern durch die Armee. Männer, die nackt oder halb nackt, mit verbundenen Augen und in Handschellen auf dem Boden liegen und vor Schmerz schreien, bespuckt, beschimpft und getreten werden.

In einem auf X verbreiteten Video legt ein Reservesoldat mit einer Kippa auf dem Kopf seinen Arm um einen Palästinenser mit einer schwarzen Augenbinde. Er lacht und tänzelt, sein Handy spielt jüdische Musik. «Warum tanzt du nicht?», fragt er den Mann, während dieser sein Gleichgewicht verliert.

Übergriff im Olivenhain

In Shi’b al Batum ist es mittlerweile acht Uhr morgens. Zwei Jugendliche klopfen an die Tür eines Häuschens und reissen die israelischen Aktivist:innen nach der Nachtwache aus ihrem Schlaf: Schnell, mitkommen! Die beiden eilen voraus, drei Aktivist:innen hinterher. Gekonnt klettern sie über einen niedrigen Stacheldrahtzaun, laufen ein kleines Stück den Hang hinunter. Direkt vor ihnen liegt jetzt die Siedlung Abigail, nur das Tal trennt sie. Kaum mehr als 200 Meter Luftlinie dürfte die Entfernung betragen. Abigail wurde 2001 wegen der strategisch günstigen Lage als Aussenposten errichtet. Bis vor kurzem galt die Siedlung sowohl nach internationalem als auch nach israelischem Recht als gesetzeswidrig. Vor zwei Monaten legalisierte die israelische Regierung Abigail.

Schatten einer Frau bei der Olivenernte im Westjordanland
Arbeiten in ständiger Angst: Frau bei der Olivenernte im Westjordanland.   

Die beiden Jungs und ein älterer Mann, der schon vor Ort ist, beginnen eilig, Oliven zu pflücken. Immer wieder wandern ihre Blicke ängstlich in Richtung Abigail. Die Sonne steht hoch am Himmel, vom Regen am Vortag ist die Erde noch feucht, stellenweise matschig. Sie hatten die israelischen Aktivist:innen zur Unterstützung gerufen, falls jemand sie angreift. Nur wenige Familien ernten in dieser Saison ihre Oliven, zu gross ist die Gefahr von Angriffen – ein massiver ökonomischer Verlust. «Letztes Mal, als die Bewohner:innen in dieser Gegend ernteten, wurde jemandem ins Bein geschossen», erzählt eine Aktivistin.

Etwa eine Viertelstunde lang sammeln sie ihre Oliven ungestört in einem Kübel. Unten im Tal hütet ein jüdischer Schafhirte seine Herde. Immer wieder winkt er und ruft etwas hoch zur Siedlung. Dann machen sich bewaffnete Soldaten auf den Weg Richtung Shi’b al Batum, nähern sich den Olivenbäumen.

Wortfetzen auf Hebräisch sind zu hören, die Soldaten beschuldigen die israelischen Aktivist:innen der Zusammenarbeit mit dem Feind. Innerhalb kürzester Zeit hat sich fast das ganze Dorf – Männer, Frauen und Kinder – auf dem Hügel versammelt. Die Soldaten stehen ihnen frontal gegenüber, die Frauen brüllen alle durcheinander, um sie zu vertreiben. Ob es sich tatsächlich um Soldaten oder um Siedler in Uniform handelt, weiss zu diesem Zeitpunkt niemand.

Mit ihren Gewehren zielen die Männer aus allen Richtungen auf die Dorfbewohner:innen. «Verräterin!», sagt einer mit schwarz maskiertem Gesicht zur WOZ-Reporterin. Ein Aktivist hält die Arme wie zur Kapitulation in die Luft. Ihm, einer filmenden Aktivistin und dem älteren Palästinenser, der seine Oliven geerntet hatte, werden die Hände jetzt mit Kabelbinder gefesselt. Man zerstört ihre Telefone. Etwa eine Stunde dauert das Szenario, vielleicht etwas länger. Niemand wird heute mehr Oliven ernten. Von nun an dürfen die Dorfbewohner:innen ihre Felder nur noch mit Genehmigung der Armee betreten.

Nach dem Vorfall wird unser Team genau beobachtet. Mehrere unbekannte Autos folgen unserem Wagen, als wir nach einer Tankstelle in der Gegend suchen, auch später, als wir versuchen, zum Dorf zurückzukehren, was uns nicht gelingt. Immer wieder fragt jemand, was wir hier wollen. Wer von den Verfolgern zur Armee gehört, wer nicht, bleibt unklar. «Ihr wart an Orten, wo Journalisten nichts zu suchen haben!», bellt ein Siedler zu uns herüber und holt darauf Soldaten.

Teenager mit Gewehr

In der Siedlung Susya, die nur wenige Autominuten von Shi’b al Batum entfernt liegt, herrscht Mittagsidylle. Hier gibt es zwar keine Tankstelle, dafür aber einen Mann, der privat Benzin verkauft – er ermöglicht uns den Zugang zur Siedlung, die Journalist:innen normalerweise nicht betreten dürfen. Im Goldfischteich seines Wohnhauses plätschert fröhlich das Wasser. Wenige Meter daneben kommen Dorfbewohner:innen mit schweren Plastiktüten bepackt aus dem Supermarkt. Es ist Freitag, sie müssen sich jetzt sputen, um rechtzeitig für den Schabbat ein Festmahl vorzubereiten.

«Ruhig ist es hier in diesen Tagen», sagt eine Dame mit Rock und französischem Akzent auf Hebräisch, während sie ihre Einkäufe ins Auto packt. Die Araber:innen würden keine Probleme machen. Sie lädt auf ihre Terrasse ein, um den Ausblick und die Schönheit der Judäischen Wüste zu zeigen. Zunächst muss sie aber um Erlaubnis fragen, ob sie das darf. Nach einem kurzen Telefonat hat sie es sich anders überlegt. Stattdessen tauchen zwei misstrauische Soldaten auf und beginnen, Fragen zu stellen.

An der Bushaltestelle vor der Siedlung Shim’a ist dafür später Yochai Damari zu einem Gespräch bereit, der Sprecher der israelischen Regionalverwaltung in der Gegend südlich von Hebron. Auf dem Hügel gegenüber der Haltestelle stehen provisorisch errichtete weisse Wohnhäuschen, frische Spuren der Expansionspolitik in dieser Gegend. «Ein Schulzentrum», sagt Damari. Doch weder möchte er sich vor ihnen fotografieren lassen, noch will er das Zentrum gemeinsam betreten. Auch nach israelischem Recht sind diese Häuschen illegal – so lange, bis sie offiziell genehmigt werden.

Damari ist ein fülliger Mann mit ergrautem Haar und einer kleinen Kippa auf dem Kopf. «Siedlergewalt gibt es bei uns nicht. Wenn es in Tel Aviv vereinzelt Kriminalität gibt, bedeutet das nicht, dass ganz Tel Aviv kriminell ist», wiegelt er ab. Aber dass die palästinensischen Dörfer verschwänden, sei ihm auch schon aufgefallen. Warum, das wisse er nicht. Ein freudiges Lächeln huscht über sein Gesicht. «Ich konnte es selbst nicht glauben, als ich es sah. Die Dörfer sind illegal hier.» Dass es Übergriffe bei der Olivenernte gebe, verneint er – zu Kriegszeiten müsste man eben besonders viel Abstand wahren.

Die Frage, ob die Siedler:innen ihre Sicherheit selbst in die Hand nehmen würden, verneint er ebenfalls: auf keinen Fall. Allerdings, das bestätigt er, würden viele Anwohner:innen ihren Reservedienst in dieser Gegend leisten. Kaum hat Damari fertig gesprochen, läuft ein Teenager mit braunen Schläfenlocken und einem Gewehr an der Bushaltestelle vorbei. Er gehöre zur Patrouille im Ort, daher auch die Waffe, sagt der Junge, für die Armee sei er noch zu jung.

Dass Damari beim Lügen erwischt wurde, scheint ihn nicht zu stören. Stattdessen erzählt er stolz, dass er seit vierzig Jahren in dieser Gegend lebe. Mit ihm vier Generationen: seine Eltern, er, die Kinder und die Enkel. Sie sind gekommen, um zu bleiben.