Zuflucht auf Zypern: Nicht alle sind willkommen

Nr. 48 –

So nahe wie auf Zypern ist der Krieg im Nahen Osten nirgends sonst in Europa. Wie die Bevölkerung der geteilten Insel mit den zahlreichen Geflüchteten umgeht – und selbst auf den Konflikt blickt.

ein Fotograf fotografiert ein israelisches Ehepaar nach der Trauung
Geschäftsmodell Trauung: Weil weder der Libanon noch Israel die Zivilehe kennt, fliegen viele Paare für die Eheschliessung nach Zypern.

Durch die bodentiefen Fenster des Hochzeitsbüros in Larnaka dringt ein Zaghuta nach aussen: ein schriller Freudenschrei, wie er in arabischsprachigen Ländern üblich ist. Evros Evriviades öffnet die Tür des cremefarbenen Festsaals und tritt nach draussen in den überdachten Innenhof. Kaum zwanzig Minuten hat die Zeremonie gedauert, aber länger als üblich. «Manche Paare träumen ewig von diesem Moment, andere kommen hierher und haben noch Sand vom Strand an ihren Füssen kleben», sagt Evriviades.

Seit nunmehr drei Jahren vermählt der Künstler und Stadtrat Paare in der zyprischen Küstenmetropole. Vor allem Libanes:innen, so wie die Braut und den Bräutigam gerade eben. Und Israelis, wie das Paar am Morgen – die beiden einzigen Trauungen von Evriviades an diesem Tag. In den beiden verfeindeten Ländern Libanon und Israel gibt es keine Zivilehen. Nicht einmal eine Flugstunde von Tel Aviv und Beirut entfernt, lockt das kleine Zypern säkulare und interreligiöse Heiratswillige mit einer unbürokratischen Alternative. Paare, die morgens hinfliegen und nachmittags zurück, das ist laut Evriviades in Friedenszeiten keine Seltenheit.

Doch seit dem 7. Oktober sind die zivilen Trauungen in Larnaka um vierzig Prozent eingebrochen. Und obwohl sich Mitte November noch immer Tourist:innen an den Sandstränden räkeln, klagen auch Hotelbesitzer:innen auf Zypern über viele Stornierungen. Der Krieg in Nahost an den gegenüberliegenden Ufern des Mittelmeers ist auf der kleinen Insel so nah wie an keinem anderen Ort Europas.

Jüdische Gemeinde wächst

Zehn Minuten Fussweg vom Hochzeitsbüro für Zivilehen entfernt liegt am Rand der gepflasterten Altstadtgässchen Larnakas das Zentrum des jüdischen Lebens auf Zypern. Absperrband und Betonbarrikaden blockieren die Zufahrt zur grössten Synagoge. Bewaffnete Soldaten und Polizisten wachen vor dem elektronisch gesicherten Metalltor. «Angesichts der aktuellen Situation wollen wir kein Risiko eingehen», sagt Menachem Raskin. Der älteste Sohn des Oberrabbiners von Zypern arbeitet für die Gemeinde, die nicht nur zum Beten in die Synagoge kommt: Ein koscheres Restaurant mit zwei Dutzend Tischen und ein kleiner Supermarkt gehören zu dem vierstöckigen Gebäude.

Geht es nach dem Willen der Gemeinde, entsteht zudem bald ein Museum auf dem Areal. Das erste Exponat können Besucher:innen bereits im Garten der Synagoge besichtigen: eine rostige Blechbaracke aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Rund 52 000 Jüd:innen auf ihrem Weg ins Mandatsgebiet Palästina fingen die Briten zwischen 1946 und 1949 ab und sperrten sie in Internierungslager auf Zypern, das damals ebenfalls unter britischer Kolonialherrschaft stand. Damit sollte die Masseneinwanderung ins Heilige Land eingedämmt werden. Erst nach der Staatsgründung Israels 1948 liess man die Emigrant:innen nach und nach gehen.

Als die Raskins vor zwanzig Jahren auf Zypern ankamen, lebten nur rund achtzig jüdische Familien verstreut auf der Insel. «Die erste Synagoge befand sich in unserem Wohnhaus», erinnert sich Menachem Raskin. Er war damals noch ein Kind. Heute gibt es fünf Synagogen, rund 3000 Familien gehören mittlerweile zur Gemeinde. Sie stammten aus Grossbritannien, aus Russland und seit Februar 2022 vermehrt aus der überfallenen Ukraine, sagt Raskin. Doch vor allem kämen sie aus Israel.

Im Bunker überlebt

Wegen steigender Preise und des politischen Klimas hätten zuletzt viele seiner Landsleute Israel verlassen. Nun ist es der Hamas-Angriff vom 7. Oktober, der Zypern zu einem Zufluchtsort für viele Israelis gemacht hat. In den ersten beiden Wochen nach dem Massaker seien Tausende Israelis zur Synagoge gekommen, sagt Raskin. Viele reisten weiter nach Europa oder in die USA, weil es aus Israel kaum mehr Direktflüge gab, andere flogen nach einigen Tagen zurück in ihr Heimatland. Etwa tausend Menschen seien jedoch geblieben und wollten sich auf Zypern ein neues Leben aufbauen. Oder suchten zumindest vorübergehend Abstand von Terror und Krieg. Die Gemeinde unterstützt die Neuankommenden bei ihrer Suche nach Wohnraum und Schulplätzen.

Auch Edit Ben Ami gehört zu jenen Israelis, die in den vergangenen Wochen auf Zypern gelandet sind. Schon einmal hatte die 45-Jährige auf der Insel gelebt. Die IT-Firma, für die ihr Mann arbeitete, hatte ihm einen Job auf Zypern angeboten. Zehn Jahre blieben sie, dann wurde vor drei Jahren der Wunsch stärker, die Kinder in Israel aufwachsen zu sehen. Nun ist Ben Ami mit ihrer Familie zurückgekehrt. «Um zu heilen», wie sie sagt. Einem Gespräch mit der WOZ stimmt Ben Ami nur zu, wenn ihr richtiger Name und ihr genauer Aufenthaltsort nicht genannt werden.

Zu präsent ist noch immer jener Morgen vor acht Wochen, der mit einem Alarm auf ihrem Handydisplay begann. Ein Messer für den Notfall habe sie mit in den Schutzraum genommen, wo sie mit ihren Eltern und ihren drei Kindern stundenlang ausharrte. Nach ihrer Rückkehr nach Israel war die Familie ganz in die Nähe von Nir Oz gezogen, einem Kibbuz im Süden des Landes. Er liegt nur drei Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Ben Ami ist dort aufgewachsen, sagt bis heute «meine Leute», wenn sie von den Bewohner:innen des Kibbuz erzählt. Jede:r vierte von ihnen wurde am 7. Oktober getötet oder verschleppt, viele der jüngst freigelassenen Geiseln stammen aus Nir Oz. Auch in Ben Amis Dorf hätten Hamas-Terroristen einzudringen versucht. Der freiwillige Sicherheitsverband des Ortes, dem ihr Mann angehöre, habe sie abwehren können.

Wenige Tage später hat ihre Tochter bei einem erneuten Raketenangriff angefangen zu schreien. Da sei der Entschluss gefallen, Israel wieder zu verlassen, sagt Ben Ami. Ob sie jemals dorthin zurückkehren wird, weiss sie noch nicht. Auch nicht, ob ihre Familie auf Zypern bleiben werde. «Seit dem 7. Oktober fühle ich mich als Jüdin nirgendwo mehr sicher», sagt sie. Der weite Blick von ihrem Fenster auf die mit Pinien und Olivenbäumen bewachsenen Hänge spende ihr ein wenig Trost. Und die gegenseitige Unterstützung der Israelis auf Zypern sei gross. Aber die vielen propalästinensischen Demonstrierenden, die in diesen Tagen auch auf Zypern lautstark durch die Strassen ziehen, machten ihr Angst. Vor einigen Jahren, da hätte sie vielleicht noch verstehen können, dass viele Menschen auch Solidarität mit der Zivilbevölkerung im Gazastreifen einforderten. «Aber jetzt nicht mehr», sagt Ben Ami. Die Palästinenser:innen würden ihre Kinder zum Hass erziehen. Nicht einmal Israelis, die sich für den Frieden einsetzten, seien bei den Massakern verschont worden.

In der Bevölkerung im Süden der Insel, wo auch die meisten Israelis leben, sind Sympathien mit den Palästinenser:innen weitverbreitet. Viele griechische Zypriot:innen sehen Parallelen zur eigenen konfliktreichen Geschichte – seit 1974 ist die Insel zweigeteilt, der Norden von der Türkei besetzt. Der bis heute andauernde Zypernkonflikt hat im vergangenen Jahrzehnt jedoch auch zur politischen Annäherung zwischen der griechischen Republik Zypern im Süden und Israel geführt – als strategische Allianz bei der Ausbeutung entdeckter Gasfelder im Mittelmeer, auf die auch der türkische Norden Anspruch erhebt.

Die Sorgen der Wirtin

Im gegenwärtigen Nahostkrieg versucht sich die griechische Regierung nun als Vermittlerin zu präsentieren. So schlug sie etwa einen humanitären Korridor mit Hilfslieferungen vom Hafen in Larnaka in den nahen Gazastreifen vor, als Entlastung für den ägyptischen Grenzübergang Rafah. Vorerst scheint das wegen fehlender Infrastruktur im Gazastreifen nicht machbar, aber es ist ein Signal an die arabischen Nachbarstaaten, mit denen man ebenfalls gute Verbindungen unterhält. Gleichzeitig befürchtet die Regierung, dass eine mögliche Eskalation zu mehr Geflüchteten auf der Insel führt und vor allem auch Syrer:innen mit ihren Booten anlegen, die im Libanon nicht noch einmal einem Krieg ausgesetzt sein wollen. Nicht erst seit dem 7. Oktober sind Stimmen gegen Asyl und Migration auf der Insel lauter geworden. Diese richten sich vor allem gegen Menschen aus arabischen und afrikanischen Staaten.

In ihrem kleinen Restaurant Mishmish sitzt Serena Sadek an einem der leeren Holztische. Die Aufschrift «Moderne palästinensische Küche» an der grossen Glasfront neben dem Eingang ihres Restaurants hat die Gastronomin bereits vor Monaten entfernt. Als Vorsichtsmassnahme. Ein rechter Protestzug gegen Migrant:innen sei auf der Hauptstrasse im Zentrum Nikosias vorbeigezogen, an der auch das «Mishmish» liegt. «Wir hatten Angst, dass sie uns sonst alles kaputt schlagen», sagt Sadek.

Vor dreizehn Jahren kam die Palästinenserin zum Studieren nach Zypern und hat sich schnell in die Insel verliebt. 2021 eröffnete sie ihr Restaurant, in dem sie klassische Gerichte wie Makluba zu mittleren Preisen anbietet. Auf Zypern ist es das einzige ausgewiesene palästinensische Restaurant. Sadek war stolz auf die positive Resonanz und die guten Bewertungen bei den Lieferdiensten, die in den Mittagspausen grosse Bestellungen zu den vielen Büros im Viertel ausgetrugen. Doch in den Tagen nach dem Hamas-Angriff habe das «Mishmish» Dutzende Kleinstbestellungen erhalten – und schlechte Bewertungen. «Wer dahintersteckt, wissen wir nicht», sagt Sadek. Ein Polizeiauto habe plötzlich vor dem Restaurant geparkt. Es sei nicht klar gewesen, ob es sie schützen oder beobachten wolle. Seither bietet Sadek nur noch Gerichte zum Mitnehmen an, lässt keine Gäste mehr an ihren Tischen Platz nehmen.

Die Polarisierung auf der Insel betrachtet Sadek teils mit Sorge, teils mit Verständnis angesichts der hohen Opferzahlen im Gazastreifen und des jahrzehntelangen Konflikts, der auch auf das Zusammenleben in Nikosia ausstrahlt. «Vor dem 7. Oktober gab es viele Israelis, die zu mir ins Restaurant gekommen sind. Sie haben sich bei mir bedankt», sagt Sadek, für ihre Speisen, die sie an die Küchen ihrer Mütter und Grossmütter erinnert hätten. Mit den Gerichten sei es letztlich ein bisschen wie mit den umkämpften Gebieten in Israel und Palästina, die Sadek «unser Land» nennt: «Gerichte sind vielfältig, man kann sie variieren und anpassen. Aber man darf ihren Ursprung nicht vergessen.»