Öffentlicher Luxus: Das Vorglühen der Zukunft

Nr. 1 –

Illustration von Luca Schenardi: Traumlandschaft mit Strand, Wasserfall, Sonne und Regenbogen

Auf den ersten Blick mag es merkwürdig scheinen, sich in düsteren Zeiten wie diesen mit dem schillernden Überfluss zu beschäftigen. Doch über Luxus nachzudenken, bedeutet nichts weniger, als dem Kapitalismus seinen zentralen Begriff zu entwenden: den des Mehrwerts. Denn der Begriff des Luxus weist auf den eigentlich subversiven, archaischen Körper des Kapitalismus hin – auf das Kapital, das nicht reinvestiert wird, sondern der Verschleuderung dient.

Was wäre nun, fragt die WOZ zum Jahresauftakt, wenn wir diesen feudalen Kern des Kapitalismus vergesellschafteten? Wenn plötzlich alle darauf Anspruch hätten, wie es auch das kürzlich erschienene Buch «Öffentlicher Luxus» fordert?

Worin sich alle Autor:innen des Sammelbands einig sind: Wenn der Sinn jeder humanen Praxis darin besteht, nicht den Tod, sondern das Leben zu feiern, zu erhöhen, voller und zugleich sicherer zu machen – und zwar für alle –, dann hat der Kapitalismus den Realitätscheck nicht bestanden. Ein System, das auf der Idee beruht, Gewinne zu privatisieren um den Preis der Vernichtung des Lebens auf dem Planeten selbst, zerstört den Begriff humaner Arbeit. «Öffentlicher Luxus» als Gegenentwurf erwächst deshalb aus einer Ökonomie der Fülle, der Präsenz und der Sorge. Öffentlicher Luxus ist nicht tot, sondern lebendig, nicht privat, sondern kollektiv, nicht wesenlos, sondern konkret.

Womit ich zu einer Sache komme, vielleicht der einzigen, von der ich etwas verstehe: zum Theater – nicht als Institution, sondern als lebendige Praxis gedacht. Denn das Theater ist für mich eine Realutopie des öffentlichen Luxus. Alles, was die Tödlichkeit des Kapitalismus ausmacht, was Entfremdung, Fetischisierung und so weiter in die Welt bringt: Es ist im Theater unmöglich. Nehmen wir die Automatisierung: Künstliche Intelligenz kann ein Buch schreiben, einen Film drehen, eine postmoderne Oper verfassen – in Sekundenbruchteilen. KI kann schlagkräftigere Slogans entwickeln als alle Propagandaminister der Geschichte zusammen. KI kann die Wahrscheinlichkeit einer Revolution genauer berechnen, als Marx und Lenin es sich jemals träumen liessen.

Aber Theater machen kann die KI nicht. Denn ein Theaterstück ist grundsätzlich öffentlich und im archaischsten Sinn luxuriös, allein abhängig von einer bestimmten Anzahl Menschen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt am gleichen Ort sind. Jeder Theaterabend löst sich in der Situation auf, in der er stattfindet. Theater schafft Fülle, eine Fülle des Augenblicks, in manchen Momenten auch eine Präsenz des Abwesenden und ein Vorglühen der Zukunft – sonst nichts. Es vereint die Menschen, die ihm beiwohnen, in vielleicht der grundlegendsten Sorge: in der gemeinsamen Aufmerksamkeit für den Augenblick.

Ich würde deshalb den Begriff «öffentlicher Luxus» gern um einen Bereich erweitern: den der reinen Praxis, den der Performance. Natürlich meine ich mit Performance (oder Theater) nicht das Nachspielen eines Ibsen-Texts oder tanzende nackte Kunststudent:innen, sondern eine Theatralisierung und damit Humanisierung gesellschaftlicher Praxis überhaupt. In meinem Jesus-Film «Das Neue Evangelium» singt Vinicio Capossela einen alten sardischen Arbeiter:innensong, in dem es heisst: «Wir wollen in einem Land leben, in dem die Landarbeiter zugleich Studenten sind.»

Als ich im Frühjahr im Amazonas war für eine Inszenierung der «Antigone», habe ich genau so ein Land kennengelernt: die tägliche Praxis der «Landlosenbewegung», ein Zusammenschluss von 200 000 Familien, die auf besetzten Monokulturen biologischen Reis, Mais, Gemüse anbauen, Schulen errichten, Theater, Sportplätze. «Wir kultivieren das Land, und das Land kultiviert uns», lautet ihr Leitspruch.

Mehrwert oder Privatisierung, also privater Luxus, ergibt in dieser Logik keinen Sinn. Das Pflanzen, Umsorgen, Ernten, das gemeinsame Essen, die Gespräche, die Freundschaften, die Musik, die plötzlichen Regenfälle und die politischen Debatten, der ganze Instagram-Wahn, der in Brasilien jede Praxis begleitet, sind nichts anderes als die Feier der Arbeit selbst. Warum sollte davon ein Gewinn, ein Profit übrig bleiben? Wozu?

Öffentlicher Luxus: Das funktioniert nur, wenn wir erkennen, dass Luxus nie Fetisch sein kann, sondern nur Feier. Dass öffentlicher Luxus nicht bloss realisierte Sozialdemokratie ist, wie das gleichnamige Buch den Eindruck erweckt. Sondern dass er das Theater des Lebens selbst ist, in all seiner Momenthaftigkeit, Fülle, Vergänglichkeit, Gefährdung und gemeinsamen, gespannten Aufmerksamkeit füreinander und für die Grundlagen, auf und von denen wir leben. Dass dies nicht bloss spirituelles Gelaber ist – was natürlich immer droht, wenn Theaterleute ihre Stimme erheben –, zeigt folgende Tatsache: Die Landlosenbewegung ist die grösste Produzentin von biologischem Reis in Lateinamerika.

Milo Rau ist Theaterregisseur. Sein Stück «Familie» läuft ab dem 5. Januar am Schauspielhaus Zürich.

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