Mission Mittelmeer

In der Hölle auf See

Samstag, 22. Oktober, 18.53 Uhr

In den letzten drei Tagen insgesamt viereinhalb Stunden geschlafen. Die Nacht mit der libyschen Küstenwache, ein wahr gewordener Albtraum, scheint mir schon ewig her zu sein, aber vergessen werde ich sie nie. Kurz nach Mitternacht, am frühen Freitagmorgen, erhalten wir den Auftrag, zu einem in Seenot geratenen «migrant boat» mit 150 Personen 14,5 Meilen nördlich der libyschen Küste, also ausserhalb des libyschen Hoheitsgebiets, zu fahren. Ein Tanker sei in der Nähe, habe aber keine Möglichkeit, das Boot zu bergen. Vor einigen Tagen habe ich geschrieben, dass es nichts Verloreneres als ein orientierungsloses Gummiboot gibt, das im Meer treibt. Da hatte ich noch nie ein orientierungsloses Boot voller Migranten, das nachts im Meer treibt, gesehen.

Um halb drei Uhr kommen wir beim Boot an, im Dunkeln leuchten die Lichter des Tankers Okyroe. Wir lassen wie immer unsere beiden RIBs ins Wasser, für den ersten Kontakt und das Verteilen der Schwimmwesten, den Scheinwerfer unseres Mutterschiffs immer aufs Migrantenboot gerichtet, als plötzlich ein Patrouillenschiff der libyschen Küstenwache auftaucht. Darauf stehen vielleicht sechzehn junge, uniformierte und zum Teil bewaffnete Männer, denen man lieber nicht im Dunkeln begegnen würde; aufgestellt wie auf einem Playmobilschiff, perfekt inszeniert, jeder hat seinen Platz. Ihr Auftritt ist lächerlich und bedrohlich zugleich. Verständigen können wir uns nicht, wir sprechen kein Arabisch, sie kein Englisch. Immer wieder brüllen sie: «Go out!» Wir wissen nicht, was sie damit meinen, haben aber den Eindruck, dass sie wollen, dass wir die Migranten mitnehmen, out, weg von Libyen.

Doch dann drängen sie mit einem gefährlichen Manöver eines unserer RIBs vom Flüchtlingsboot ab, einer ihrer Männer springt mit einem Seil an Bord, schlägt auf die Flüchtlinge ein und beschimpft sie. Wir hören die Leute schreien. In ihrer Panik springen vier Menschen vom Boot ins dunkle Wasser. Leute auf einem unserer RIBs ziehen sie ins Boot und bringen sie zur «Sea-Watch 2». Wir helfen den vier jungen Männern an Bord, die zittern vor Kälte oder Angst oder beidem, setzen sie auf das Achterdeck, wickeln sie mit Wärmefolien ein. Ich höre Ingo, unseren Head of Mission, auf dem Frontdeck per Megafon brüllten: «Boat is sinking! Men overboard! Men overboard!» Ich höre Menschen schreien, will nicht hinsehen und bleibe bei den vier jungen Männern, ich bringe ihnen gerade zwei Tassen mit Tee, die Schreie sind ganz nah an meinem Ohr, ich weiss nicht, wo die Teetassen hingekommen sind, jedenfalls helfe ich plötzlich mit, einen jungen Mann an Bord zu ziehen, nass und mit entblössten Genitalien, ich möchte ihm die Hose hochziehen, doch die Hölle ist schon losgebrochen. Immer mehr nasse, teils ganz nackte Körper fallen neben mir schreiend, wimmernd, zitternd auf den Boden. Ich stürze zur Reling, werfe mit den anderen unzählige Schwimmwesten über Bord, gegen den Wind. Sie kommen nie dort an, wo ich hinziele. Leinen, Rettungsringe. Irgendwann ist das sinkende Boot so nahe, dass wir ihre Hände greifen können. Ein schmächtiger Jugendlicher neben mir, gerade erst selbst an Bord geklettert, zieht mit einer unglaublichen Kraft einen nach dem anderen an Bord. Ich greife nach Händen, Beinen, Hosenbünden, schlüpfrigen Armen, die mir entgleiten, und plötzlich sind sie doch oben.

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemanden habe ertrinken sehen in jener Nacht. Das kann fast nicht sein, zwischen zwanzig und dreissig Menschen sind ertrunken. Your mind plays tricks on you. Ich kann mich erinnern, dass im sinkenden Boot zwei Körper mit dem Gesicht nach unten und mit entblösstem Unterkörper trieben. Ich kann mich erinnern an den grossen, kräftigen Mann, der mit hängenden Armen im Boot stand, stumm, mit weit aufgerissenen Augen zu uns hochschaute, während das Boot sank. Irgendwann hatten wir auch ihn an der Hand, zogen ihn aufs Deck. Viele von ihnen rissen sich sofort die Kleider vom Leib, die Mischung aus Benzin und Meerwasser verätzte ihnen die Haut. Die beiden RIBs suchten die Umgebung ab, bargen weitere Menschen aus dem Wasser, darunter auch vier Tote. 124 konnte die «Sea-Watch»-Crew retten.

Ich weiss nicht, wie viel Zeit verging, um all die Leute an Bord zu holen. Wir verteilen Rettungsdecken und Wasserflaschen, duschen ihnen mit Schläuchen das ätzende Benzin vom Körper. Manche der Flüchtlinge helfen uns dabei, viele schlafen bald ein, das Rascheln der Rettungsdecken im Wind. Wir fahren nach Norden. Als es hell wird, sehen wir, dass die meisten unserer «Gäste» noch sehr jung sind. Junge Männer um die zwanzig. Manche vielleicht sogar erst zwölf oder vierzehn. Nur wenige um die dreissig.

Um 7 Uhr finden wir ein Holzboot mit vierzehn weiteren Männern an Bord. Aus Libyen und Syrien, steigen sie trockenen Fusses mit Rucksäcken und Rollkoffern an Bord. Wir nehmen Kurs auf zum Tanker Okyroe, um ihm die Geretteten zu übergeben. Während des Morgens tauchen immer wieder neue Gummiboote auf, insgesamt acht an der Zahl. Alle gefüllt mit rund 150 Menschen. Unsere RIBs sind ständig auf dem Wasser, versorgen die Flüchtlinge mit Rettungswesten, shutteln sie von den Gummibooten zum Tanker, wo sie eine gut 25 Meter lange Strickleiter hochklettern. Wir auf der «Sea-Watch 2» versuchen, unsere Gäste mit dem Nötigsten zu versorgen, sortieren Schwimmwesten, nehmen weitere Personen an Bord, unser Schiff füllt sich langsam, mindestens 200 Leute. Darunter eine Gruppe völlig entkräfteter Frauen, eine davon alleine mit ihren zwei Kleinkindern unterwegs, die, kaum an Deck, sofort einschlafen. Bei Sonnenuntergang verlassen die letzten fünf unser Schiff Richtung Tanker, nachdem sie sich von ihrem toten Bruder, der im Medic Room aufgebahrt lag, verabschiedet haben.

Wir räumen notdürftig auf. Irgendwann kommt ein Speedboot der «Sien Pilot» (ein norwegisches Frontex-Schiff) mit Männern in weissen Ganzkörperanzügen. Sie erscheinen mir wie Ausserirdische. Sie nehmen uns die vier Toten ab. Ein Speedboot eines spanischen Kriegsschiffs fordert uns auf, das Flüchtlingsboot zu versenken. Wir versuchen einigermassen aufzuräumen, beschliessen, möglichst weit nordwärts zu fahren. Raus aus der 24-Meilen-Zone, um zumindest einen halben Tag Pause machen zu können und unser Equipment zu ordnen. Um halb zwölf gehe ich ins Bett. Drei Stunden später werden wir wieder alle geweckt. Wieder Rufe aus dem Dunkeln, wieder ein Gummiboot mit 150 Menschen. Darunter viele Frauen und einige Kinder. Die Bergung verläuft problemlos. Doch noch während wir dieses erste Boot bergen, tauchen am Horizont weitere Gummiboote auf: sieben, acht, zehn, zwölf … es hört nicht auf. Bis zu 2000 Leute treiben in Gummibooten. Das MSF-Schiff Dignity, die norwegische «Sien Pilot» und auch wieder der Tanker Okyroe, eigentlich auf dem Weg nach Thailand, sind an der Bergung beteiligt. Unsere RIBs sammeln die Leute von vier grossen und einem kleinen Gummiboot ein. Dazwischen wieder «engine fishers», Speedboote, Hubschrauber.

Am frühen Abend kommt die italienische Küstenwache und evakuiert alle Boote, die sich um uns herum gesammelt haben. Die Tage und Abläufe verheddern sich in meinem Kopf. Was war gestern? Was war heute? Als Kind hatte ich einen kleinen Nintendo mit einem simplen 8-bit-Game, in dem man mit einem Ruderboot Falschirmspringer auffangen musste. Mit der Zeit kommen immer mehr Fallschirme immer schneller vom Himmel, bis irgendwann zu viele ins Wasser fallen, Game over. Mir kommt es vor, als befänden wir uns ebenfalls in einem grossen, perversen Spiel. In einer riesigen Arena, die aus Wasser besteht, in deren Mitte ein grosses Tankschiff liegt und wo aus allen Himmelsrichtungen neue Player auftauchen. Doch was wird hier überhaupt gespielt?