Mission Mittelmeer

Putzen, schlafen, nachdenken

Gäste auf dem Brückendeck der «Sea-Watch 2».

Montag, 24. Oktober, 17.40 Uhr

Wir sind nun gut siebzig Meilen von der libyschen Küste entfernt. Heute ist unser freier Tag. Das bedeutet: aufräumen, putzen, Schwimmwesten waschen und zum Trocknen aufhängen. Schlaf nachholen und vielleicht auch Zeit finden, über die vergangenen drei Tage zu sprechen und nachzudenken.

Gestern Abend haben wir unsere 163 Gäste der spanischen Küstenwache übergeben, die sie nach Italien bringt. Unter ihnen auch der achtjährige Richard aus Ghana, der in der vorangegangenen Nacht um 3 Uhr als einer der Ersten zu uns an Bord gekommen war und sofort hoffnungsfroh fragte: «We go to Italy now?» Und der seelenruhig eine Stunde darauf wartete, dass seine Familie nachkommen würde. Mit ihm waren auch zwei Kindern im Kindergartenalter und ein Baby, das sich in einem Schockzustand zu befinden schien. Beinahe regungslos lag es in meinen Armen, die weit aufgerissenen Augen ins Leere gerichtet. Zu viel Angst für so einen kleinen Körper. Unter den 163 Menschen auch eine Gruppe von jungen Männern aus Bangladesch, die zum Teil ohnmächtig an Bord gehievt wurden.

Die italienische Küstenwache hatte keinen Platz für unsere Gäste. Also blieben sie über Nacht auf der «Sea-Watch 2». Dicht an dicht schliefen sie in Wärmefolien gehüllt, mit Schwimmwesten als Kopfkissen, draussen im Wind. Die Nachtwache hangelte sich jeweils der Reling entlang, um auf niemanden draufzutreten. Seltsam war auch die Stille: In den 36 Stunden, die sie bei uns verbrachten, wurde kaum gesprochen. Nur einmal gegen Mittag hörte ich eine Gruppe von Nigerianerinnen leise singen. Und wieder kamen mir die Tränen.

Es ist nichts Neues, aber wenn ich vom Aussichtsturm auf unsere Gäste blickte, wird mir bewusst, wie wenig Wert das Leben eines nichtweissen Menschen hat in dieser Welt. Wenn irgendein irrer Europäer gesponsert und mit Hightechausrüstung über den Atlantik segelt und dabei ums Leben kommt, wird er als Held gefeiert. Niemand spricht vom unglaublichen Mut der Menschen aus Afrika, dem Nahen Osten und Asien: Ohne schwimmen zu können, barfuss und ohne Gepäck steigen sie in ein Gummiboot, das wohl nicht einmal auf dem Bielersee zugelassen würde, dessen Tank nur so weit gefüllt ist, dass das Boot es aus der Zwölfmeilenzone herausschafft. Und dann sitzen sie dicht gedrängt während Stunden in der praller Sonne auf dem Meer treibend, auf dem Bootsboden ein Gemisch aus Meerwasser, Benzin, Erbrochenem und Urin.

Auf einem früheren «Sea-Watch»-Einsatz ist einmal die Schwimmweste einer Journalistin ins Wasser gefallen. Weil die mit einem sogenannten AIS-Sender ausgerüstet war, wurde auf allen umliegenden Schiffen ein Alarm ausgelöst. Alle meldeten sich bei der «Sea-Watch 2», um sicherzugehen, dass alles in Ordnung sei. Fällt die Schwimmweste einer Europäerin ins Wasser, geht ein Alarmsystem los. Wenn aber Hunderte, Tausende Menschen vor Lampedusa ertrinken, dann wird das zwar bedauert, aber machen kann man halt nichts, als handle es sich um Opfer einer Naturkatastrophe. Natürlich, Unfälle kann es immer geben. Gehen MigrantInnenboote unter, ist das jedoch kein Unfall, sondern so gut wie unausweichlich. Keines dieser Boot würde es jemals von alleine ans europäische Festland schaffen. Dass dies einfach so hingenommen wird, zeugt von der Geringschätzung menschlichen Lebens, wenn es sich nicht um weisse Menschen handelt. Die Mitarbeiter der Küstenwachen und auf Frontex-Schiffen tragen weisse Ganzkörperanzüge, Mundschutz und Handschuhe, wenn sie die Flüchtlinge an Bord nehmen (die italienische Küstenwache hat jeweils sogar einen orange gekleideten Froschmann dabei). Es ist keine Begegnung zwischen Menschen. Die Frontex- und Küstenwachenleute sehen aus, als wären sie Roboter, die kontaminiertes Gut an Bord nehmen.

18.10 Uhr

Soeben haben wir die Nachricht erhalten, dass heute vierzehn Gummiboote von der libyschen Küste gestartet sind. Noch sind nicht alle gefunden worden. Die «Juventa», das Schiff von «Jugend rettet», ist etwa gleich gross wie die «Sea-Watch 2» und hat 300 Menschen an Bord genommen. Wir beschliessen, den freien Tag abzubrechen und fahren gegen Süden.