LeserInnenbriefe

Nr. 22 –

Datenschutzillusion

«Schon wieder Fichenskandal: Der NDB überwacht demokratische Linke», WOZ Nr. 21/19

Die zentrale Aufgabe der Nachrichtendienste, wie auch der Polizeien, ist die möglichst präventive Verteidigung des aktuellen Gesellschaftsmodells Kapitalismus gegen diejenigen, welche dieses System ernsthaft abschaffen wollen, und sei es nur zur Abwendung der Klimakatastrophe. Geschützt werden in erster Linie Besitz und die Privilegien derjenigen, die die stetige Umverteilung des Reichtums von den Besitzlosen hin zu den Eliten unterstützen. Daher ist es völlig normal, dass jede Regung, die verdächtigt wird, der sogenannten Subversion dienen zu können – und sei dies nur ein informelles Gespräch –, registriert werden muss, um im «Ernstfall» Teil eines Massnahmendispositivs zu werden. Das war schon immer so und wird es auch bleiben. Das heisst, dass Linke lernen müssen, damit umzugehen. Dass sogar harmlose, gesetzestreue SozialdemokratInnen ausspioniert werden, zeigt nur mit aller Deutlichkeit auf, dass Datenschutz eine simple Illusion ist. Ist «Gefahr im Verzug», und wenn das nur eine Behauptung ist, kann jede demokratische Regel übertreten, jede Freiheit ausser Kraft gesetzt werden.

Hanspeter Gysin, Basel

Die WOZ stigmatisiert

«Caster Semenya: Geschlecht als Summe von Hormonen?», WOZ Nr. 19/19

Ich bin mir ja bewusst, dass die WOZ sich schon seit Jahren schwertut, bei queeren Themen eine respektvolle und angemessene Sprache zu finden … Mit dem Kommentar zu Caster Semenya habt ihr aber wieder einmal ein hässliches und erschreckendes Beispiel gezeigt. Warum ihr Normen- und Herrschaftskritik bei queeren Themen nicht fortführt, sondern diesbezüglich in bürgerlich-patriarchale Muster verfallt, bleibt mir ein Rätsel.

Gleich im zweiten Absatz stigmatisiert ihr inter Menschen mit der medizinischen Diagnose und verstärkt somit die Pathologisierung, wo nichts Krankhaftes ist. Inter zu sein, ist genauso gesund und natürlich wie dyadisch (den medizinischen Normen von männlich oder weiblich entsprechend) zu sein. Ihr fahrt fort, indem ihr sogar den englischen Begriff für Behinderung verwendet; notabene für keineswegs beeinträchtigte Körper, ausser medizinisches Personal verstümmelt inter Menschen, wie es leider immer noch getan wird. Am Ende des Kommentars gipfelt die Pathologisierung von inter sogar in der verachtenden Schreibweise «die DSD», die inter Menschen nicht mehr als Menschen sichtbar macht, sondern sie nur noch mit der Diagnose bezeichnet!

Hingegen fehlt im gesamten Kommentar die Sichtweise, dass es höchst sexistisch ist, leistungsstarke Frauen zu kritisieren und aus dem sportlichen Wettbewerb zu drängen. Wenn Frauen die Übermacht der Männer gefährden und zu nahe an ihre Leistung kommen, schlägt das Patriarchat zu. Das zeigt sich auch in der zum Ausdruck kommenden Angst, dass «die Mehrheit» diskriminiert werden könnte, wenn inter als normal und gesund angesehen würde – Wutbürger lässt grüssen. In dieselbe Kerbe schlägt der Kommentar, wenn ihr Semenya in astrein sexistischer Manier als «nervende Frau» darstellt. Indem ihr im Zwischentitel «Frau» mit Gänsefüsschen schreibt, sprecht ihr Semenya sogar ihr Frausein ab. Und dies wiederum mit einem pathologisierenden, biologistischen Begründungsversuch. Wie wäre es, statt stigmatisierte Menschen zu beschimpfen, das System infrage zu stellen, das diese konstruierten Kategorien festgelegt hat? Ach ja, stimmt, bei diesem System wollt ihr ja nicht darüber nachdenken, ob es gesprengt werden könnte, wie ihr zu Beginn und gegen Ende des Kommentars mehrmals klarmacht. Individualisierung statt Systemkritik, wie praktisch. Und nein, es geht eben nicht um «logisch-begriffliche Unterscheidungen», sondern um Leben und Existenzen von Menschen! Diskriminierung ist real.

Tobias Kuhnert, Winterthur