Aharon Appelfeld: Wohin fahren wir?

Nr. 24 –

In seinem neuen Roman kehrt der in Israel lebende Autor nochmals ins Land seiner Kindheit zurück.

«Wohin fahren wir?», fragt der vierjährige Otto seine Mutter. «Nach Norden», antwortet diese. Als Otto nachhakt: «Ist Norden ein Dorf oder eine Stadt?», erklärt Blanka: «Norden ist oben.» Seit Tagen rasen die beiden mit der Eisenbahn durch die weite Ebene, steigen von einem Zug in den anderen. An einem Bahnhof sagt Blanka: «Angekommen» - doch am Ende ihrer Reise sind sie noch lange nicht. Der idyllische Ort ist nur für einige Wochen ihre Zufluchtsstätte. Bis spät in die Dämmerung hinein sitzen sie am Fluss, baden und spielen. Nachts, wenn Otto schläft, setzt sich Blanka an den Tisch und schreibt ganze Hefte voll. Sie will Zeugnis ablegen: Die Hefte sind für Otto bestimmt, damit er später einmal begreift, «was sie sich selbst und anderen angetan» hat.

Aharon Appelfeld lässt seinen bereits 1995 erschienenen, nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Roman «Bis der Tag anbricht» mit einer Flucht beginnen, die sich allmählich als Suche nach den eigenen Wurzeln, als letztes Aufatmen und als langsames Abschiednehmen der Mutter von ihrem Sohn entpuppt. In immer dichter werdenden Rückblenden rollt Appelfeld Blankas Lebensgeschichte auf. Es ist die Geschichte einer jüdischen Frau im Österreich-Ungarn des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, die gerade mal 23-jährig gewaltsam aus dem Gefängnis ihrer Ehe ausbricht und sich dadurch «in den Augen der anderen» schuldig macht. Einmal mehr kehrt damit der 1932 in Czernowitz (heutige Ukraine) geborene und seit Ende der vierziger Jahre in Israel lebende Autor in das Land seiner Kindheit zurück. Fein verwebt er Blankas Schicksal mit demjenigen einer in Auflösung begriffenen jüdischen Kultur.

Blanka wächst in einem assimilierten jüdischen Elternhaus auf. Die Mutter leidet an Schwindsucht und verbringt die meiste Zeit in Kurhäusern. Der Vater, ein erfolgloser Geschäftsmann, verachtet alles Jüdische. Ihm schiebt er die Schuld an seiner Erfolglosigkeit zu. Sein grosser Stolz ist Blanka, im Gymnasium die beste Schülerin, sie soll einmal in Berlin studieren. Doch alles kommt anders, als Blanka heiratet: Adolf, einen hübschen, kräftigen Mann, der wegen schlechter Noten aus der Schule fliegt und fortan in einer Molkerei arbeitet. Die Ehe wird zum Albtraum: Gewalt, Frauenverachtung, Antisemitismus, Alkoholismus. Adolf verbietet Blanka, ihre kranke Mutter zu besuchen. Als das Elternhaus wegen Schulden verkauft werden muss, verfrachtet Adolf den erst 53-jährigen Vater in ein Altersheim. Nach einem Besuch bei seiner Tochter verschwindet er eines Tages spurlos.

Blanka fügt sich wortlos dem Willen ihres Ehemannes, gibt sich Mühe, alles recht zu machen - vergebens. «Spätabends kam Adolf nach Hause und schlug sie mit dem Gürtel. Jetzt schlug er nicht mehr aus Wut, sondern um ihr wehzutun. ‹Man muss dir diese ganze Schwachheit und die schlechten Eigenschaften austreiben, die du von deinen Eltern geerbt hast. Eine Frau muss eine Frau sein, kein wehleidiger Jammerlappen›.» Nachts besteigt er sie wie ein Tier. Selbst als Blanka schwanger ist, hört Adolf nicht auf, sie zu misshandeln.

«Bis der Tag anbricht» ist ein stilles, schmerzhaftes Buch. Jede Seite, jeder Satz atmet die Atmosphäre von unerfüllten Träumen, von einer zerfallenden Welt, auf welche die kommenden Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs bereits ihre Schatten werfen. Mit seiner unverwechselbar nüchternen und einfachen Sprache macht Appelfeld diesen Schmerz zwischen den Zeilen fühlbar. Er äussert sich in hilflosem, lakonischem Achselzucken («Was kann ich machen?») ebenso wie im Geschrei von Grossmutter Carola, deren Fluch all jene trifft, die sich von ihrem Glauben abgewandt haben, wie auch in Blankas Unterwürfigkeit und ihrer Sprachlosigkeit.

Erst auf der Flucht findet Blanka zu ihrer Sprache zurück. Sie spricht dann in langen, für Otto kaum verständlichen Sätzen. In ihrer Not und Einsamkeit sucht sie Halt in der Religion ihrer Vorfahren, die ihr aber eigentlich fremd ist. «Ich bin so zerstreut. Wie ein Vogel, der ohne Nest zur Welt gekommen ist», sagt sie einmal. Ihre Flucht treibt sie in die winterlichen Karpaten, die Heimat ihrer Eltern. Doch die Schlinge ihrer Verfolger legt sich immer enger um ihren Hals. Seltsam entrückt, aber ohne Furcht, scheint Blanka zuletzt in eine von Erinnerungen dominierte, heile Welt getaucht, in der sie mit ihrem Vater in ihrer Geburtsstadt im Café sitzt, bei Kaffee und Käsekuchen.