Der «Cyberterrorist»: Hacker fremder Welten

Nr. 22 –

Der Brite Gary McKinnon gilt als grösster Hacker aller Zeiten. In den USA erwarten ihn bis zu siebzig Jahre Haft, weil er auf der Suche nach Beweisen für die Existenz von Ufos in militärische Computer eindrang.


Gary McKinnon hatte nur eine Stunde geschlafen, als ihn ein rüdes Schütteln aus dem Schlaf holte. Bis tief in die Nacht hatte er in einer Wohnung in Nordlondon Computergames gespielt, gekifft und Dosenbier getrunken - bis er erschöpft auf dem Sofa eingeschlafen war.

McKinnon öffnete die Augen und versuchte zu erkennen, wer da seine Schulter packte.

«Gary McKinnon?», fragte die Stimme im Dunkeln.

«Ja?»

«Ziehen Sie sich an, und kommen Sie mit. Sie sind verhaftet.»

Der Vorwurf: Gary McKinnon soll sich jahrelang in Computer der Nasa und des Verteidigungsministeriums gehackt haben. Dafür droht ihm nun in den USA eine Haftstrafe von bis zu siebzig Jahren.

Raumschiffe im Garten

Gary McKinnon wurde 1966 in Glasgow geboren, als Sohn eines Gerüstbauers und einer Musikerin und Filmemacherin. Als Gary McKinnon sechs Jahre alt war, trennten sich seine Eltern, und er zog mit seiner Mutter Janis Sharp nach London. Garys Stiefvater, ein Ufo-Fan, stammt aus Falkirk in Schottland. Schon als kleiner Junge träumte der Stiefvater davon, durch die Felder zu wandern und riesigen Raumschiffen beim Überfliegen der schottischen Landschaft zuzuschauen. Denn gleich neben Falkirk liegt Bonnybridge, ein kleines Dorf, das als Ufo-Hauptstadt der Welt gilt. In der Gegend soll man angeblich fast täglich ein Ufo am Himmel sehen können. Die Ausserirdischen parkierten sozusagen im Garten von Gary McKinnons Stiefvater.

Die Geschichten, die er dem Jungen über ausserirdische Flugobjekte erzählte, entflammten dessen Neugier, und bald begann Gary McKinnon die Bücher seines zweiten Vaters zu lesen, vor allem Science Fiction, die Klassiker von Isaac Asimov und Robert Heinlein. Mit fünfzehn Jahren trat Gary McKinnon der britischen Ufo-Forschergruppe Bufora bei und hoffte, dass irgendwo da draussen eine höher entwickelte Form von Lebewesen existierte, die der Menschheit freundlich gesinnt war.

Als McKinnon 23 Jahre alt war, kam «WarGames» in die Kinos, ein typischer Hollywoodstreifen der Reagan-Ära, in dem es um ein computergesteuertes Raketenabwehrsystem der USA geht. Um menschliches Versagen (also das Nichtabschiessen von Raketen im Falle eines Sowjetangriffs) zu unterbinden, erfinden die USA im Film ein vollautomatisches Programm, das auf einen sowjetischen Angriff mit einem Gegenangriff reagieren würde. Ein Computer-Nerd im Teenageralter dringt aus Versehen in das Programm ein, weil er es für ein Spiel hält, und löst damit beinahe den Dritten Weltkrieg aus.

Gary McKinnon war vom Film begeistert. Aber er interessierte sich nicht für Ronald Reagan, die Sowjetunion oder den Dritten Weltkrieg. Er fragte sich, ob es wirklich so einfach war, sich in geheime Welten zu hacken. Zwölf Jahre später probierte er es aus.

Röhren? Oder Ufos?

Damals lebte Gary in der Wohnung der Tante seiner Freundin im Nordlondoner Viertel Crouch End und arbeitete als Systemadministrator in einer kleinen Firma. In der Freizeit unternahm er erste Hackversuche und drang in das Netz der Oxford-Universität ein. Von da an liess er die Verschwörungstheorien, mit denen sich seine KollegInnen vom Bufora beschäftigten, hinter sich. Gary sagte einmal, seine KollegInnen seien mehr damit beschäftigt gewesen, an solche Sachen zu glauben, als sie wirklich zu prüfen. Also beschloss Gary, die Sache mit den grünen Männchen auf eigene Faust zu klären. Er hackte sich in die Computer der US-Raumfahrtbehörde Nasa und des Verteidigungsministeriums, um Beweise für die Existenz ausserirdischer Raumschiffe zu finden.

Und er fand sie - sagt er jedenfalls. Er sah Videos von seltsamen Einheiten im Nahkampf, er fand Bilder von silbernen Röhren, die vielleicht Ufos waren, vielleicht aber auch nur Satelliten. Und er fand ein seltsames Dokument: «Darauf waren Offiziersnamen unter dem Titel ‹Nichtterrestrische Offiziere› aufgelistet. Damit waren natürlich keine grünen Männchen gemeint. Der Titel bedeutet wohl eher, dass diese Offiziere nicht auf der Erde stationiert sind.» McKinnon vermutet, dass er damals, im November 2000, eine Liste von Offizieren fand, die auf einer geheimen Weltraumbasis leben.

Also forschte McKinnon weiter; aber einen echten Beweis für die Ufo-Verschwörung fand er nicht. Zwischen 1995 und 2002 verbrachte er unzählige Nächte im Wohnzimmer der Tante seiner Freundin vor dem Computer und suchte nach Ufos - bis er eines frühen Morgens im Jahr 2002 geweckt und verhaftet wurde. Man warf ihm vor, sich in 97 Computer der Nasa und des Verteidigungsministeriums eingehackt, rund eine Million Franken Sachschaden angerichtet und nach dem 11. September 2001 das Sicherheitssystem der USA empfindlich gestört zu haben. Seine Ausflüge in die geheime Welt der Ufos gelten als grösster militärischer Hack aller Zeiten.

Nie allein

Als Gary McKinnon verhaftet wurde, gab er - ohne dass ihm ein Anwalt zur Seite gestanden wäre - sofort zu, in die fraglichen Computer eingedrungen zu sein. McKinnon sagt, man habe ihm damals versichert, dass er höchstens Sozialdienst zu leisten hätte, wenn er sofort alles zugebe. Aber nun droht ihm die Auslieferung in die USA und eine Haftstrafe von bis zu siebzig Jahren.

Das ist die Welt nach dem 11. September 2001. Denn die Strafe könnte vor allem deshalb so drakonisch ausfallen, weil McKinnon auch unmittelbar nach den Anschlägen der al-Kaida auf das World Trade Center in den US-Netzwerken nach Ufo-Beweisen suchte. Dabei soll er Programme gelöscht und Reparaturkosten in der Höhe von rund einer Million Franken verursacht haben. McKinnon bestreitet das allerdings.

In der Antiterrorhysterie der Bush-Regierung wurden die US-Gesetze gegen Hacker verschärft, Dateneinbrüche gelten seither als eine Art Terrorismus. Britannien schloss 2003 ein Abkommen mit den USA, das Auslieferungen vereinfacht, wenn eigene Bürger in den USA angeklagt sind. Wobei die USA keine Beweise zur Beurteilung des Falles vorlegen müssen.

Dabei, sagt McKinnon, seien die Hacks halb so wild gewesen. Er sei - entgegen seinem Hackernamen Solo - bei weitem nicht der Einzige gewesen, der sich nachts verbotenerweise auf versehentlich nicht abgeschalteten Computern rumtrieb. Das habe er auf dem Netzwerkstatus sehen können. «Ich war nie allein. Da waren Leute aus Dänemark, Italien, der Türkei, Deutschland, Thailand ...»

Gary McKinnon sieht ein bisschen aus, als käme er von einem anderen Stern. Mit seinen hochgezogenen Augenbrauen ähnelt er dem Vulkanier Mister Spock vom Raumschiff Enterprise, nur die spitzen Ohren fehlen. Seine Computerkenntnisse seien aber alles andere als ausser- oder überirdisch. Er behauptet, jeder, der ein bisschen mit Computern umgehen könne, hätte dasselbe tun können wie er.

Ist es wirklich so einfach, sich ins Verteidigungsministerium der USA zu hacken? Gary meint, ja. Er habe lediglich mit einem frei erhältlichen Programm die Netzwerke in den USA nach nicht passwortgeschützten Accounts abgesucht. Hatte er ein ungeschütztes Administratorbenutzerkonto gefunden, konnte er die Kontrolle über nicht abgeschaltete Computer übernehmen und nach Ufo-Beweisen suchen. Gary war erstaunt darüber, wie einfach es war, die Computer der grössten Militärmacht der Welt zu knacken. So erstaunt, dass er übermütig wurde und Botschaften auf den gehackten Computern hinterliess und sich über das Sicherheitssys-tem lustig machte. Einmal schrieb er: «Eure Sicherheit ist scheisse.»

Offenbar haben die USA tatsächlich erhebliche Probleme, ihre Daten zu schützen. Kürzlich veröffentlichte die US-Luftaufsichtsbehörde FAA einen Bericht, der zahlreiche Hackerangriffe, Spionageaktionen und Vireneinschleusungen dokumentiert. Unter anderem wurden die Zugangsdaten von rund 40 000 FAA-Nutzern inklusive der Passwörter gestohlen. Damit hätte man einen Teil des US-Flugleitsystems übernehmen können. Zudem wurden im Februar 2009 48 000 Datensätze über Mitarbeiter der FAA gestohlen und Viren in das FAA-Netzwerk eingeschleust.

Für McKinnon indes war das Risiko, erwischt zu werden, klein, weil er nachts arbeitete. Bemerkt werden konnte er nur, falls jemand Überstunden machte und dabei sah, dass sich die Maus auf dem Bildschirm von alleine bewegte.

Einmal geschah das sogar. Über ein Programm, mit dem man Sofortnachrichten verschicken kann, nahm jemand Kontakt mit ihm auf: «Wer bist du?», stand plötzlich auf McKinnons Bildschirm, während er dabei war, eine Datei zu öffnen. McKinnon sackte in sich zusammen, zögerte einen Moment und hatte dann einen Geistesblitz: Er gab sich als Administrator aus. «Ich führe einen Sicherheitscheck durch», tippte er in seinen Computer. Sein Gegenüber in den USA glaubte ihm, McKinnon verabschiedete sich und schaltete den Computer aus. Danach rührte er einige Wochen keine Tastatur mehr an.

Erwischt wurde er schliesslich trotzdem - weil er das Programm, das er zum Hacken benötigte, mit einer auf seinen Namen lautenden E-Mail-Adresse heruntergeladen hatte.

Heute lebt Gary McKinnon noch immer in London und wartet auf ein endgültiges Urteil. Seine Familie schirmt ihn von der Öffentlichkeit ab, Interviews gibt er keine. Eine Interviewanfrage beantwortete seine Mutter mit einer knappen E-Mail: «Gary lebt nun seit fast sieben Jahren mit der Angst, den Rest seines Lebens als Terrorist in einem US-Gefängnis verbringen zu müssen. Er ist nicht in der psychischen Verfassung, Interviews zu geben. Er ist suizidgefährdet. Gary wird derzeit mit Betablockern behandelt.»

Prominente Unterstützer

Seit 2002 versuchen US-Behörden, Gary McKinnon in den USA vor Gericht zu stellen. McKinnons Familie und seine Anwälte rekurrierten über alle juristischen Instanzen - bisher erfolglos. Selbst der Europäische Menschengerichtshof lehnte es ab, gegen die Auslieferung des Briten einzuschreiten. Zuletzt sahen McKinnons Anwälte nur noch einen Ausweg: Sie verlangten, dass McKinnon in Britannien angeklagt wird. McKinnon wäre in diesem Fall bereit gewesen, in ein britisches Gefängnis zu gehen und eine Haftstrafe abzusitzen - nur, um der Auslieferung in die USA entgehen zu können. Doch die britische Staatsanwaltschaft lehnte es trotz vollumfänglichen Geständnisses ab, ihn anzuklagen.

Der jahrelange juristische Hickhack um Gary McKinnon hat mittlerweile zahlreiche UnterstützerInnen auf den Plan gerufen. Rund um Garys Mutter Janis Sharp hat sich ein Unterstützungskomitee gebildet, und immer mehr PolitikerInnen engagieren sich für McKinnon. So haben sich etwa hundert Abgeordnete des britischen Parlaments gegen eine Auslieferung ausgesprochen. Selbst Boris Johnson, der konservative Bürgermeister Londons, rief in einer Kolumne den US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama dazu auf, die Auslieferung zu stoppen: «Gary war nicht einmal ein richtiger Hacker. Er hat nach leeren Passwörtern gesucht, und weil diese Militärcomputer so doof waren, war es ihm möglich, in ihren Eingeweiden nach Beweisen für kleine grüne Männchen zu suchen.»

Unterstützung erhält Gary auch aus anderen prominenten Kreisen, etwa von Sänger Sting. Und in diesen Tagen soll eine CD erscheinen, auf der Pink-Floyd-Sänger David Gilmour eigens einen Song für McKinnon aufgenommen hat.

Die Geschichte um den Hacker Gary McKinnon, der nach Ufos suchte und nun dafür wohl sein restliches Leben hinter Gittern verbringen wird, ist absurd. Gerade deshalb wurde der Fall bekannt. Aber McKinnon sagte einmal in einem Interview: «Alle denken, das Ganze sei witzig oder aufregend. Aber für mich ist es das nicht. Es ist furchterregend.»

Gary McKinnon hofft derweil auf seine letzte Chance, der Auslieferung zu entgehen. Bei ihm wurde Asperger-Autismus diagnostiziert. Angesichts dieser Diagnose sei es nicht zumutbar, McKinnon in die USA auszuliefern, sagten mehrere Experten - zumal er selbstmordgefährdet sei. Am 9. Juni soll der Fall McKinnon nun unter diesem Gesichtspunkt vor einem britischem Gericht neu aufgerollt werden, denn bisher wurde sein Autismus in keinem Verfahren berücksichtigt.

Der Film «WarGames», der Gary McKinnon zum Hacken inspirierte, endet damit, dass der junge Hacker, der die drohende Katastrophe ausgelöst hatte, als Held gefeiert wird. Wahrscheinlich wird der Junge im Film die Schule beenden, sich zum Informatiker ausbilden und danach bei der Nasa oder einer anderen wichtigen Institution arbeiten. McKinnon wird das nicht passieren. Denn bei aller Begeisterung hat er damals, als er im Kino sass, den wahrscheinlich wichtigsten Satz im Film verpasst: «Der einzige Weg zu gewinnen, ist, nicht zu spielen.»