Personenrätsel: Die Willensstarke
Den ganzen Nachmittag hatte sie mit ihrer Schwester auf dem Schutthaufen eines Abbruchhauses Späne gesammelt, die sie dringend zum Heizen benötigten – und dann kam dieser Polier und befahl, das Holz wieder dorthin zu bringen, wo sie es gestohlen hätten. Dabei wusste doch jeder, dass das Abfallholz den Armen zustand! Ihre Mutter tröstete sie, es sei besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun. Das 1861 geborene Zürcher Arbeiterkind aber zog den Schluss daraus, dass offensichtlich Gewalt vor Recht ging, und setzte sich fortan – «mit heiligem Eifer» – gegen Unrecht ein.
Dass sie selbst der drückenden Armut entkommen würde, war nicht abzusehen. Für den Besuch der Sekundarschule reichte das Geld nicht, und ein Stipendium kam für den Vater nicht infrage: Almosen nahm man nicht. Schon gar nicht, wenn man, wie er, gerade die Arbeit verloren hatte. Da die Familie von der miserabel bezahlten Heimarbeit der Mutter nicht leben konnte, bewarb sich die Dreizehnjährige kurzerhand in einer Färberei und lernte das harte Leben der Textilarbeiterinnen kennen.
Als sie 1893 – inzwischen Präsidentin des Schweizerischen Arbeiterinnenverbands – ihre erste Rede hielt, wusste sie also, wovon sie sprach: dass die Arbeitsverhältnisse erbärmlich und die Löhne ein Hohn waren, dass das geforderte Verbot der Industriearbeit für Frauen diese in die noch elendere Heimarbeit führen würde. Und sie wusste, dass den Arbeiterinnen neben Arbeit und Haushalt kaum Luft blieb, sich ein anderes Leben auch nur vorzustellen. «Ohne Hoffnung bringt der Arme die Tatkraft nicht auf, für Besserstellung und Glück zu kämpfen», war sie überzeugt. Und so pflanzte sie Hoffnung in die Köpfe der Frauen mit der Aussicht auf die Einführung von Mindestlöhnen, auf besseren Arbeits- und Versicherungsschutz und auf Bildungsangebote. All das sei erreichbar, wenn man sich gemeinsam wehrt.
Privat entkam die Gattin eines sozialistischen Druckereibesitzers mehrmals nur knapp dem Ruin – bis sie 1908 eine zündende Idee hatte. Wer war die Frauenrechtlerin und Verlegerin, die mit einer Familienzeitschrift gegen die volksverdummende Schundliteratur grossen Erfolg hatte?
Wir fragten nach der Sozialistin, Gewerkschafterin und Frauenrechtlerin Verena Conzett-Knecht (1861–1947). Sie war 1890 die erste Präsidentin des frisch gegründeten Schweizerischen Arbeiterinnenverbands (SAV) und sass später im Vorstand des Schweizerischen Arbeiterbunds. Mit ihrem Mann Conrad Conzett organisierte sie die Herausgabe der «Arbeiter-stimme» und des «Zürcher Anzeigers». Nach dem Freitod ihres Mannes übernahm sie die verschuldete Druckerei und publizierte die Familienzeitschrift «In freien Stunden», eine Zeitschrift «für das arbeitende Volk», in der neben politisch aufklärenden Artikeln auch Werke von Jules Verne, Charles Dickens und Émile Zola erschienen. Mit dem Abonnementspreis verbunden war eine private Unfallversicherung, deren Deckungssumme Verena Conzett-Knecht mit fortschreitendem finanziellen Erfolg der Zeitschrift erhöhte. Lesenswert ist ihre Autobiografie «Erstrebtes und Erlebtes» (1929) und das Buch «Die Arbeiterin in Zürich um 1900. Sozialgeschichtliches auf den Spuren Verena Conzetts» von Hans Peter Treichler, das zur aktuellen gleichnamigen Sonderausstellung des Money-Museums in Zürich erschien.