Personenrätsel: Die Schwertkämpferin

Nr. 42 –

«Wenn wir nur einen Funken Würde im Leib haben, müssen wir Armeen aufstellen, um die Verbrecher, die das Bandagieren der Füsse ­erfunden haben, zu bestrafen», appellierte sie von Tokio aus an ihre «zweihundert Millionen Schwestern in China». Sie sollten es nicht ­länger hinnehmen, dass Dummheit als weibliche ­Tugend gepriesen und Frauen wie Sklavinnen gehalten würden. Ausserdem müssten sie das Schicksal ihres Landes endlich selbst in die Hand nehmen: Die Männer hätten nicht verhindert, dass es langsam zugrunde gehe – warum also wollten sie ihnen noch länger vertrauen?

Als sie diesen Aufruf schrieb, hatte sie selbst gerade alle gesellschaftlichen Fesseln abgestreift. Dabei durfte sich die 1875 im Südosten Chinas geborene Beamtentochter anfänglich durchaus zu den Privilegierten zählen: Anders als die meisten ihrer Zeitgenossinnen hatte sie lesen und schreiben gelernt, und auch ihre Füsse waren nicht verstümmelt worden; sie lernte sogar reiten und wurde in der Kampfkunst unterrichtet. Ganz entkam aber auch sie dem weiblichen Pflichtprogramm nicht: 1896 wurde sie mit einem reichen Gutsverwalter verheiratet, dem sie fortan untertan war.

Nach acht Jahren hatte sie genug. Sie verkaufte ihren Schmuck, verliess Mann und Kinder und setzte nach Japan über, wo Frauen, wie sie wusste, studieren durften. Dort liess sie sich zur Krankenschwester ausbilden, engagierte sich in einem Verband geflüchteter chinesischer StudentInnen, schwang sich in die Führungsebene mehrerer radikaler Geheimgesellschaften auf und verfeinerte nebenbei ihre Fertigkeiten im Schwertkampf wie in der Sprengstoffherstellung.

Nach China zurückgekehrt, blieben ihr keine zwei Jahre mehr, um den Sturz der verknöcherten Kaiserdynastie voranzutreiben. Sie gab eine Propagandazeitschrift für Frauen heraus und nutzte ihre Position als Leiterin zweier Schulen, um künftige militärische Kader auszubilden und zu vernetzen. Es stand nicht schlecht um den Aufbau der revolutionären Organisation, doch dann wurde im Juli 1907 ein Aufstand verraten und gnadenlos niedergeschlagen – und die Rebellin im Alter von 31 Jahren (zum Entsetzen selbst des Bürgertums) geköpft.

Wer war die tatkräftige Frau, die ihre ZeitgenossInnen provozierte, indem sie in Männerkleidung durch die Strassen ritt, und die nach dem Sturz des letzten Kaisers 1911 als Heldin verehrt wurde?

Wir fragten nach der chinesischen Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und Revolutio­närin Qiu Jin (1875–1907). Ihr Leben und eine (unvollendete) Erzählung über die Lebens­bedingungen der chinesischen Frauen Ende des 19. Jahrhunderts sind in «Qiu Jin – Die Steine des Vogels Jingwei» von Catherine Gipoulon nachzulesen.