Kultour

Nr. 13 –

Film

Der ganze Kubrick

Worum gehts in Stanley Kubricks «The Shining»? Um einen Schriftsteller, der in einem verlassenen Hotel in den Bergen dem Wahnsinn verfällt, so würde man meinen. Strenggläubige Kubrick-Fans wissen es besser. Und sie scheuen keinen analytischen Aufwand, um uns über die wahre Bedeutung dieses Horrorklassikers aufzuklären. Anhand einer Backpulverdose, die im Film in einem Regal steht, können sie nachweisen, dass «The Shining» eigentlich vom Genozid an den Native Americans handelt – oder aber vom Holocaust, wie die deutsche Schreibmaschine beweist, auf der Jack Nicholson im Film seinen immer gleichen Satz tippt.

Willkommen in «Room 237» (2012), Rodney Aschers Dokumentarfilm über galoppierende Spurenlese angesichts von «The Shining». In einer grossen Retrospektive zeigt das Kino Xenix jetzt Kubricks Gesamtwerk in digitaler Pracht, von seinen frühen Kurzfilmen bis zu «Eyes Wide Shut» – und unter den Supplements zu dieser Werkschau läuft eben auch Aschers Dokumentarfilm über den methodischen Wahnsinn der Nerds, die sich von des Meisters Filmen zu ihren irrwitzigen, aber immer irgendwie wasserdichten Interpretationen verleiten lassen. Ascher lässt die Fans im Off dozieren und «belegt», was sie sagen, mit Bildern aus «The Shining» und anderen Filmen. So soll Kubrick an einer Stelle per Airbrush sogar sein Gesicht in die Wolken gemalt haben: der allmächtige Autor, der sich als Herrgott in den Himmel pinselt. Und weil so ein Gott natürlich unfehlbar sein muss, werden selbst Anschlussfehler zur absichtlichen Parodie auf schlechte Horrorfilme schöngeredet. Doppelbödig und wahnsinnig vergnüglich.

«Digitally Shining Kubrick» in: Zürich Kino Xenix. Bis 22. April 2015. «Room 237» läuft Do–So, 2.–5. April 2015, Mo–Mi, 6.–8. April 2015, jeweils um 17.15 Uhr. www.xenix.ch

Florian Keller

Theater

«The Civil Wars» in Bern

Ursprünglich wollten Milo Rau und das International Institute of Political Murder ein Theaterstück darüber schreiben, «weshalb junge Europäer lieber in Syrien sterben, als in Westeuropa zu leben». So formulierte es das Zürcher Theaterspektakel, wo «The Civil Wars» im letzten August uraufgeführt wurde. Während der Recherchen im Milieu belgischer Salafisten kippte das Skript jedoch in eine andere Richtung: Es wurde privater und zugleich allgemeiner.

Vier hervorragende SchauspielerInnen sitzen in einem altmodischen Wohnzimmer und erzählen ihre eigenen Lebensgeschichten, genauer: Erlebnisse aus ihrer Jugend und mit ihren traurigen Vätern, die alle aus dem Tritt geraten sind. So suggeriert «The Civil Wars» in aufwühlender Weise eine Ähnlichkeit der Lebensläufe und Probleme: zwischen den Verzweifelten und Wütenden, die zu Kriegern werden, und denjenigen, die andere Auswege finden. Gleichzeitig scheint implizit und ganz ohne Pathos eine Art Lösung auf – Theater statt Krieg. Die Geschichte eines jungen belgischen Secondos, der nach Syrien in den Kampf zieht, wird dabei nur indirekt wiedergegeben. Aber auch in dieser Biografie steht ein hilfloser Vater im Zentrum, der seinem Sohn ins Kriegsgebiet folgt, um ihn zurückzuholen, jedoch der klaren autoritären Ideologie des bewaffneten Kampfs nichts entgegenzusetzen hat. Alle diese scheiternden Väter stehen sinnbildlich für eine Zeit und eine Gesellschaft, die keine Vorbilder und Gemeinsamkeiten mehr hat und die auch darum aus den Fugen gerät.

Ist Europa am Ende? «The Civil Wars» ist der erste Teil der «Europa-Trilogie», die Milo Rau ab 11. April im Residenztheater München mit «The Dark Ages» weiterführt und die im November mit «Die Geschichte des Maschinengewehrs» an der Schaubühne Berlin abgeschlossen werden soll.

«The Civil Wars» in: Bern Dampfzentrale, 
Mi, 1. April 2015, 19.00 Uhr; Do/Fr, 2./3. April 2015, 20.30 Uhr. Französisch mit deutschen Untertiteln.

Daniela Janser

Literatur

Wortlaut

«Und so führte am 2. Mai 1904 eine Frau ein kleines Kind an der Hand in einen Wald hinein. Die beiden gingen stumm. Die Frau wusste, mit diesem Kind würde sie den Wald nie mehr verlassen.»

Die Frau in Michèle Minellis Buch «Die Verlorene» ist Frieda Keller. Die neunzehnjährige Thurgauerin wurde als Folge einer Vergewaltigung schwanger. Keller wird Opfer eines Justizskandals, der sie in grosse Not bringt, da sie von Gesetzes wegen «die Folgen ihrer Unsittlichkeit selbst tragen» muss.

Die 7. Literaturtage «Wortlaut» in St. Gallen werden mit einer szenischen Lesung von Minelli und Peter Hörner aus «Die Verlorene» eröffnet. «Laut» und «Luise», «Lechts» und «Rinks», so lauten die verschiedenen Reihen, in denen Bücher und AutorInnen am «Wortlaut» präsentiert werden. In «Laut» im Palace zeigt der Berner Christoph Simon sein erstes Kabarettprogramm, und der Münchener Kabarettist Jess Jochimsen präsentiert in «Für die Jahreszeit zu laut» Texte, Dias und Songs zur allgemeinen Lage. In «Luise» im Festsaal und in der Hauptpost lesen unter anderem Ruth Schweikert und Simona Ryser aus ihren demnächst erscheinenden Romanen, Urs Mannhart liest nicht aus seinem Roman «Bergsteigen im Flachland», weil er das aufgrund vermuteter Urheberrechtsverletzung nicht mehr darf; stattdessen spricht er über das Recherchieren und literarische Techniken.

Das Spoken Word steht im Zentrum von «Rinks» in der Grabenhalle: Zu hören sind unter anderem Sandra Künzi und die Bassistin Reg Fry mit ihrem wunderbaren Programm «Mikronowellen». In «Lechts» im Lapidarium steht das gezeichnete Wort im Mittelpunkt: Gastgeberin Lika Nüssli begrüsst Zeichnerinnen aus dem In- und Ausland.

7. St. Galler Literaturtage «Wortlaut» in: St. Gallen, Do–So, 26.–29. März 2015, verschiedene Orte. 
www.wortlaut.ch

Silvia Süess

Ausstellung

Skizzen kritzeln

Dauernd verwandelt die Hand des Zeichners die weisse Linie in neue Hindernisse – kein Wunder, ist «La Linea» immer am Schimpfen. Das weisse, grossnasige Linienmännchen des italienischen Cartoonisten Osvaldo Cavandoli ist Kult. Kultige Skizzen, die die Welt bewegt haben, sind auch Teil der Ausstellung «Skizzen kritzeln» im Forum Schlossplatz in Aarau.

Aber nicht nur: Auf Papierservietten, Zeitungsränder oder Bierdeckel kritzeln wir schliesslich alle, unabhängig von unserer zeichnerischen Begabung. Warum eigentlich? Als eine Art «Denken von Hand» bezeichnen es die einen, als Konzentrationsübung die andern. Manche tun es aus Langeweile, manche glauben, beim quasi gedankenlosen Skizzieren eben gerade ihre Gedanken schärfen zu können, während für andere genau diese Kritzeleien verborgene seelische Zustände offenbaren sollen. In erster Linie kritzeln wir aber für uns selbst. Manchmal aber auch für ein Gegenüber, dem wir etwas erklären wollen, oder wir hinterlassen Markierungen für eine Gruppe Eingeweihter – auf der Toiletten- oder der Gefängniswand, mit Kreide auf der Strasse. Das Forum Schlossplatz versammelt 230 solcher Skizzen und Kritzeleien aus siebzig verschiedenen Bereichen. Von unbekannten Händen ebenso wie von KünstlerInnen geschaffen, unter ihnen der Autor Friedrich Dürrenmatt, der Filmemacher Fredi M. Murer oder das internationale Netzwerk der Urban Sketchers.

«Skizzen kritzeln» in: Aarau Forum Schlossplatz, Sa, 28. März 2015, bis So, 7. Juni 2015; Vernissage am Fr, 27. März 2015, 18.30 Uhr. www.forumschlossplatz.ch

Franziska Meister

Buchvernissage

Immer schön teilbar bleiben!

Das Dividuum (Teilbares) hat, als Negativ von Individuum (Unteilbares) eine lange Geschichte, in denen es jedoch unterschiedliche Zuschreibungen durchlaufen hat. Wie der Philosoph und Kunsttheoretiker Gerald Raunig in seinem neuen Buch «Dividuum» zeigt, haben diese Interpretationen spätestens seit den hochmittelalterlichen Texten des Bischofs Gilbert de Poitiers und nicht zuletzt durch die philosophischen Annäherungen von Friedrich Nietzsche und Gilles Deleuze eine politische Dimension, die sich in unserer Gegenwart durch das Web 2.0 auf neue Art entfaltet. Denn das Konzept des Individuellen wird angesichts der Allgegenwart von Algorithmen, Big Data und Social Media zunehmend unzureichend und eröffnet damit neue Felder des Dividuellen.

Für Raunig zeigt sich dies auch als Teil des zeitgenössischen «maschinischen» Kapitalismus – über die Unterwerfung des Menschen unter die Maschine weit hinausgedacht, als Erweiterung von «herrschaftlicher Teilung und Selbstzerteilung». Die gute Nachricht, die Raunig für uns hat: Dieses Reich des Dividuellen bietet zugleich auch das Potenzial für eine neue Qualität des Widerstands – als «kritische Mannigfaltigkeit», als «molekulare Revolution». Ganz in diesem Sinn gibt es eine experimentelle Buchvernissage mit performativen Lesungen und Interventionen. Um die Bereitschaft zur Teilbarkeit wird gebeten!

Stephanie Danner

Buchvernissage «Dividuum» in: Zürich Corner College, Sa, 28. März 2015, 19 Uhr. Mit Sound- und Leseintervention mit Gerald Raunig, Niki Kubaczek, Isabell Lorey und Alexander Tuchacek. 
www.corner-college.com