Bevölkerungspolitik in China: Gebärstreik und Widerstand

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Das chinesische Regime versucht, eine demografische Krise abzuwenden, und ruft die Frauen im Land zum Kinderkriegen auf. Bisher ohne Erfolg. Denn die patriarchale Familienordnung gerät zunehmend in die Kritik.

Für die Frauen in China wäre der Schritt eine Zäsur: Seit der Einführung der sogenannten Ein-Kind-Politik vor vierzig Jahren unterliegt ihre Familienplanung rigiden staatlichen Kontrollen. Nun gehen BeobachterInnen davon aus, dass diese im Frühjahr fallen.

Mit der Aufhebung der Kontrollen versucht die Führung der Kommunistischen Partei (KPCh), eine demografische Krise abzuwenden. Laut der vom nationalen Statistikamt Chinas am Freitag veröffentlichten Daten ist die Zahl der Geburten 2019 auf den niedrigsten Stand seit Jahrzehnten gefallen. Die Fertilitätsrate ist so niedrig, dass die Bevölkerung bald deutlich schrumpfen wird. Und auch die Zahl der Erwerbstätigen verringert sich seit mehreren Jahren kontinuierlich.

Da sich viele Frauen weigern, mehr als ein Kind zu bekommen, hat selbst die Einführung einer «Zwei-Kind-Politik» im Jahr 2016 nicht die gewünschte Geburtenzunahme bewirkt. In «Birth Strike. The Hidden Fight Over Women’s Work» beschreibt die Autorin Jenny Brown das Phänomen eines informellen «Gebärstreiks» als «Reaktion von Frauen auf ihre schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen». Die chinesischen Lokalbehörden versuchen zurzeit, diesen «Streik» zu brechen – bisher ohne Erfolg.

Dabei geht es um nichts Geringeres als die Zukunft des Landes: Bleibt der vom Staat geforderte Babyboom aus, droht eine Verschärfung der Arbeitskräfteknappheit und der Überalterung der Gesellschaft. Dies könnte die wirtschaftliche Fortentwicklung abwürgen.

Rigide Vorschriften

Die erwartete Wende in der staatlichen Geburtenpolitik und die Forderung nach mehr Kindern birgt eine historische Ironie. Auch in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren hatten Teile der KPCh von Frauen verlangt, möglichst viele Kinder zu bekommen – damals für den Aufbau des Sozialismus. Ab Anfang der siebziger Jahre versuchte die Führung jedoch verstärkt, das Bevölkerungswachstum und damit zusammenhängende wirtschaftliche Lasten zu reduzieren. Lokale Kader waren demnach für die Einhaltung vorgegebener Babyquoten verantwortlich.

Mitte der siebziger Jahre lancierte die Führung eine Kampagne für spätere Heirat, längere Abstände zwischen Geburten und weniger Kinder. Zwischen 1970 und 1980 sank die Geburtenrate von 33,5 Kindern pro 1000 EinwohnerInnen auf 18,2.

Ende der siebziger Jahre leitete das Regime umfassende Wirtschaftsreformen ein, löste die landwirtschaftlichen Kommunen auf und verteilte das Land an Bauernfamilien. Nun fürchtete es jedoch, die BäuerInnen würden diese Lockerung der staatlichen Kontrolle ausnutzen und wieder mehr Kinder bekommen. Deswegen verhängte die Führung mit der Ein-Kind-Politik strikte Vorschriften und setzte sie rigide durch – mit Kampagnen, Zwangsabtreibungen und -sterilisierungen, Kontrollen der Verhütungsmethoden und anderen Repressionen.

In den Städten war das weitgehend erfolgreich, bedeuteten Zuwiderhandlungen doch hohe Geldstrafen, den Verlust des Arbeitsplatzes oder gar des Rechts, in der Stadt zu leben. Ausserdem wurde die Vorgabe eher akzeptiert, weil aufgrund der staatlichen Versorgungssysteme die Zahl der Kinder (und deren Geschlecht) für die soziale Absicherung nicht so entscheidend waren. Auf dem Land hingegen gab es von Anfang an deutlich mehr Widerstand gegen die neue Regel – vor allem, wenn das erste Kind ein Mädchen war. Gemäss den dominanten patriarchalen Vorstellungen in China setzen nur Söhne die Familientradition fort, Töchter werden nach der Heirat Teil der Familie ihres Ehemanns, sind für die eigene Familie als Arbeitskraft und Altersabsicherung also «verloren».

Dass die Staatskader und die medizinischen Versorgungsteams den Widerstand gegen die Verordnung in vielen Fällen blutig niederschlugen, ist im kürzlich erschienenen Dokumentarfilm «One Child Nation» des US-chinesischen Filmemachers Nanfu Wang beispielhaft zu sehen. Darin schildern Wangs InterviewpartnerInnen auf dem Land, wie seit den achtziger Jahren nicht nur Strafen verhängt und Häuser zerstört, sondern Frauen auch brutal zu (späten) Abtreibungen und Sterilisierungen gezwungen wurden. Gleichzeitig töteten die Dorfbewohner viele weibliche Neugeborene oder setzten diese aus.

Mitte der achtziger Jahre reagierte das Regime auf die Unzufriedenheit und den Widerstand auf dem Land. Weil es fürchten musste, die Kontrolle über die Dörfer zu verlieren, erlaubte es ländlichen Familien ein zweites Kind, wenn das erste ein Mädchen war. Da es weitere Sonderregelungen gab, etwa für «Minderheiten», ist die Bezeichnung «Ein-Kind-Politik» eigentlich irreführend. Die Beschränkung auf nur ein Kind galt letztendlich nur für etwa ein Drittel der Frauen in China.

Unbeabsichtigte Auswirkungen

Auch wenn das Regime behauptet, 400 Millionen Geburten «eingespart» zu haben – der «Erfolg» der Ein-Kind-Politik ist mindestens fragwürdig. So fielen die Fertilitätsraten bereits vor Einführung der rigiden Politik deutlich. Und in vergleichbaren Ländern wie Südkorea oder Thailand sind sie ohne Zwangsmassnahmen ähnlich gesunken – durch die Zunahme der Urbanisierung, bessere Bildung und wirtschaftliche Verbesserungen.

Ab den nuller Jahren wurden die unbeabsichtigten Auswirkungen der Ein-Kind-Politik derweil immer deutlicher. Aufgrund von geschlechtsselektiven Abtreibungen und Femiziden entstand ein Männerüberhang. Die Geschlechtsverteilung von Geburten liegt seit den neunziger Jahren je nach Provinz zwischen 115 und 130 Jungen zu 100 Mädchen; 2017 lebten in China 32,7 Millionen mehr Männer als Frauen. 2010 gab es zudem schätzungsweise 13 Millionen «schwarze Kinder», die als Illegale nicht registriert wurden, um Strafen zu entgehen – etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie haben beispielsweise keinen Anspruch auf Schulerziehung und Sozialleistungen.

In den letzten Jahren fiel die Zahl der Geburten deutlich, was auch Folge der immer weiter zurückgehenden Zahl von Frauen im Gebäralter ist. 2019 gab es lediglich 14,6 Millionen Geburten, 1990 waren es noch 23,9 gewesen. Die Geburtenrate lag im letzten Jahr bei nur noch 10,5 pro 1000 EinwohnerInnen, der niedrigste Stand in der Geschichte der Volksrepublik. Aufgrund der niedrigen Geburtenzahlen droht vor allem eine entscheidende Quelle des Wirtschaftswachstums zu versiegen: frische (und möglichst «billige») Arbeitskraft.

Die Erwerbsbevölkerung schwindet auch deshalb, weil das Regime keine nennenswerte Einwanderung von Arbeitskräften zulässt und sich bisher nicht traut, das Rentenalter (60 Jahre für Männer, zwischen 50 und 55 Jahren für Frauen) hochzusetzen. Nun «überaltert» die Gesellschaft zusehends, was durch die auch in China gestiegene Lebenserwartung verschärft wird. So lag der Anteil der über Sechzigjährigen 2017 bei etwa einem Sechstel, 2030 soll er bei einem Viertel und 2050 bei etwa einem Drittel liegen. Immer weniger Jüngere müssen also immer mehr Ältere versorgen, ohne dass bisher ein ausreichendes Rentensystem existiert – vor allem auf dem Land.

Der Sexismus des Regimes

Seit Jahren schon versucht die Führung der KPCh, ihre Bevölkerungspolitik anzupassen. 2013 erlaubte sie Eltern, die selbst aus Ein-Kind-Familien kommen, zwei Kinder zu haben. Ab 2016 galt dann die Zwei-Kind-Regel, und es wird erwartet, dass 2020 die Vorgabe komplett gestrichen wird, weil alle bisherigen Massnahmen letztlich scheiterten. Nun hat die Führung in einigen Gegenden Kampagnen für mehr Kinder gestartet und an die «patriotische Pflicht» der chinesischen Frauen appelliert, der «Nation» Kinder zu schenken. «Die Geburt eines Babys ist nicht nur eine Angelegenheit der Familie selbst, sondern auch eine Staatsaffäre», schrieb die «Volkszeitung» bereits 2018. Lokale Behörden versuchen, die Kinderflaute durch materielle Anreize, Elternzeiten und Propaganda zu beenden, und einige haben das Recht auf Abtreibungen eingeschränkt.

Die KPCh-Führung sieht Frauen weiter als Gebär- und Sorgemaschinen im Dienst ihres Entwicklungsregimes. Unter dem aktuellen Vorsitzenden Xi Jinping werden «konfuzianische Werte», sprich sexistische Gesellschaftsvorstellungen, von staatlicher Seite verstärkt betont, Ehe und Familie als zentrale Säulen der Gesellschaft herausgestrichen und Frauen zunehmend auf eine «traditionelle» Geschlechterrolle und Sorgearbeit in den Familien festgelegt – auch durch die offizielle Frauenorganisation der Partei. Flankiert wird dies von einer rigiden heteronormativen Sexualmoral, wie sie in den staatlichen Medien verbreitet wird.

In der Wirtschaft sank die Frauenerwerbsquote, die 1990 noch bei 73 Prozent lag, bis 2018 auf 60 Prozent, das Geschlecht ist, neben der Herkunft, der wichtigste Faktor für die (in China enorm hohe) Einkommensungleichheit. Frauen verdienten 2018 im Schnitt nur 78 Prozent dessen, was Männer verdienen, sie werden weiter bei der Einstellung benachteiligt, weil sie wegen Geburt oder Reproduktionsarbeit ausfallen könnten.

Auch der patriarchale Druck in den Familien hält an: Junge Frauen sollen mit Mitte zwanzig heiraten und Kinder bekommen, um «die Familientradition fortzusetzen» – und das vor allem durch das Gebären eines Sohnes. Unverheiratete Frauen über 27 werden hingegen als «übrig gebliebene Frauen» stigmatisiert. Und schliesslich sehen sich Frauen auch in China im Alltag häufig sexualisierter Gewalt ausgesetzt.

Formen der Auflehnung

Offener und organisierter Frauenwiderstand ist in China gefährlich. Wo feministische Aktivistinnen ausserhalb der offiziellen staatlichen Vertretungskanäle für Fraueninteressen eintreten und sich zum Beispiel gegen sexualisierte Gewalt wehren, reagiert der Staat mit repressiver Härte. So wurden 2015 etwa die Mitglieder der Gruppe «Feministische Fünf» verhaftet, nachdem sie Aktionen gegen sexuelle Nötigung von Frauen geplant hatten. Und 2018 wurde die Onlineplattform «Nüquan Zhisheng» (Feministische Stimmen), die sich für eine #MeToo-Kampagne starkgemacht hatte, vom Netz genommen.

Es gibt jedoch andere Formen der Auflehnung. Etliche Frauen in China stellen die konfuzianistische Familienordnung infrage und legen es darauf an, ihre schlechte Lage durch «Hochheiraten in bessere Kreise» zu ändern, schieben die Heirat hinaus, bleiben lieber unverheiratet oder lassen sich bei Problemen schneller wieder scheiden. Die Zahl der registrierten Heiraten sank von 13,5 Millionen 2013 auf 10,1 Millionen 2018, die Zahl der Scheidungen nahm deutlich zu, von 1,3 Millionen 2003 auf 4,5 Millionen 2018, und sie wurden meist von Frauen eingereicht.

Vor allem wollen viele junge Frauen in China nicht qua Parteianweisung als Reproduktionsmaschinen fungieren und die verlangten (zwei) Kinder bekommen. Die soziale und geografische Herkunft spielt hier eine wichtige Rolle: Die (relativ wenigen) Frauen der urbanen Mittelklasse könnten sich ein zweites Kind leisten, die (viel zahlreicheren) migrantischen und ländlichen Frauen wegen der hohen Kosten für Wohnung, Bildung und Gesundheit nicht oder nur schwerlich.

Viele wollen ohnehin nicht mehr als ein Kind, weil sie nicht noch die Reproduktionsarbeit für ein zweites Kind übernehmen wollen, oder sie bekommen es später, weil sie sich erst um ihre Ausbildung und Berufslaufbahn kümmern wollen. Das erklärt, warum es bisher trotz Lockerung der Geburtenkontrolle und Kampagnen für mehr Kinder keinen Babyboom gegeben hat. Dem chinesischen Regime werden Gebärstreik und Frauenwiderstand noch einige Probleme bereiten.