RebellInnenrätsel: Der staatskritische Naturwissenschaftler

Nr. 16 –

Bildungsminister in der russischen Übergangsregierung hätte er werden können, doch er mochte nicht. Und auch als ihm die Bolschewisten die Publikation seines Gesamtwerks bezahlen wollten, lehnte er ab. Der Mittsiebziger nahm nichts vom Staat – und schon gar nicht von einem, der die Revolution verraten hatte.

Es war nicht das erste Mal, dass Regierungschefs über den eigensinnigen Adligen den Kopf schüttelten. 1842 in Moskau geboren, hatte der Grossfürstensohn eine exklusive militärische Ausbildung genossen. Doch statt bei Hof oder im Garderegiment die Karriereleiter hinaufzuklettern, liess er sich – fasziniert von den Forschungsreisen Alexander von Humboldts – lieber zu den berittenen Amur-Kosaken in Sibirien versetzen.

Dort fand er zu seinem Erstaunen Kommunen vor, die weder Beamte noch Steuern benötigten, um zu funktionieren. Und eine feine, mit sozialistischen Büchern bestückte Gouverneursbibliothek. Nach fünf Jahren, in denen er Transbaikalien erkundete und Reformvorschläge für die Regierung verfasste (die nie umgesetzt wurden), quittierte er angesichts der zunehmenden staatlichen Repression entnervt den Militärdienst. Eine Zeit lang betrieb er als Sekretär der Russischen Geografischen Gesellschaft Forschung, unter anderem in Finnland. Dann begab er sich auf die Spuren der internationalen Arbeiterbewegung – und fand 1872 bei den UhrmacherInnen des Schweizer Jura eine politische Heimat: Er wurde Propagandist einer egalitären Gesellschaft ohne Staat.

Wieder in Russland, brachte ihm der Versuch, den herrschaftsfreien Sozialismus zu verbreiten, eine lange Haftstrafe ein, die er 1876 durch eine spektakuläre Flucht abkürzte. Immer von Spitzeln umgeben, gründete er darauf im Ausland diverse anarchistische Zeitungen, wurde erst aus der Schweiz, dann 1886 aus Frankreich gewiesen, und schliesslich, als er 1917 aus dem englischen Exil zurückkehrte, in Sankt Petersburg von Zehntausenden Menschen begeistert empfangen – obwohl er die Fortsetzung des Kriegs gegen das militaristische Deutschland gefordert hatte.

Wer war der 1921 verstorbene, international hoch geachtete Grandseigneur des Anarchismus, der dem sozialdarwinistischen Konzept des Kampfs jeder gegen jeden die menschliche Neigung zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe entgegenhielt?

Wir fragten nach dem Philosophen, Autor, Revolutionär und Naturforscher Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921). Für sein Gegenkonzept zum radikalen Sozialdarwinismus argumentierte er mit Beispielen aus Gemeinschaften in Sibirien und der Tierwelt. Bereits zu Anfang des Ersten Weltkriegs hatte er die AnarchistInnen aufgefordert, gegen Deutschland ins Feld zu ziehen, da er fürchtete, dass sich der preussische Militarismus gesellschaftlich durchsetzen würde. Sein Buch «Gegenseitige Hilfe» (siehe WOZ Nr. 22/19) erschien 1902, seine «Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten» 1923.