Im Affekt: Jeanne d’Arc irrt sich

Nr. 18 –

«Diese Frau erlebte Unglaubliches», verhiess die «SonntagsZeitung» auf der Titelseite zum tragischen Schicksal einer Flugbegleiterin: Weil dieser berufsbedingt in aller Herren Länder Testwattestäbe in die Nase gestossen werden, sei sie zum Coronaopfer geworden, ohne je an Covid-19 erkrankt gewesen zu sein. In Island habe ein Wattestab «ihre Nasenscheidewand erheblich» verletzt. Wer schon Coronatests über sich ergehen lassen musste, weiss, dass diese kein Vergnügen sind – das Ausmass der gesundheitlichen Folgen verwirrt gleichwohl: Die Bedauernswerte leide unter Atemnot, könne keinen Sport treiben und habe ihre Lebensfreude verloren. Weil sie keine Maske mehr tragen könne, werde sie «in der Öffentlichkeit angefeindet, beschimpft, bespuckt und Schlimmeres». Deutsche seien besonders grob.

So viel Leid macht neugierig. «Megafon», die Zeitung der Reitschule Bern, stöberte im Facebook-Profil der jungen Frau Verlautbarungen auf, die nahelegen, dass diese auch vor ihrer Nasenwandverletzung freiwillig bestimmt keine Maske aufgesetzt hätte. Von ihr gepostete Texte, Fotos und Videos sollen den weltweiten Kinderhandel belegen, ohne den die Eliten weder frisches Blut saufen noch sich an Kinderschlachtplatten delektieren könnten: Es ist der wahnhafte Quatsch, den QAnon-Anhängerinnen, manche Coronaleugner und Vigilant Citizens verbreiten.

Anscheinend wusste Michèle Binswanger, die Autorin des Texts, um die Vorlieben der Porträtierten, hielt es aber nicht für notwendig, deren Weltsicht in einen Zusammenhang mit den dramatischen Schilderungen zu bringen. Doch für die Einordnung des Behaupteten wäre das unabdingbar gewesen! Umso unverständlicher ist, dass sich Tamedia noch immer hinter diesen Text stellt.

Binswanger, die sich gemäss Twitter als «Jeanne d’Arc der Pressefreiheit» fühlt und ihr Profil mit einem Foto der legendären US-Journalistin Joan Didion schmückt, muss der journalistische Kompass inzwischen komplett abhandengekommen sein.

Gratistipp für die Verantwortlichen des «Tages-Anzeiger»-Twitter-Profils: Das «Header-Bild» könnte auf Dauer imageschädigend wirken.