Diesseits von Gut und Böse: Gar kein Illusionstheater

Nr. 37 –

«Inhaltliche Warnung: verbale Gewalt, Live-Sex», schreibt das Zürcher Schauspielhaus zur Produktion «Kurze Interviews mit fiesen Männern» nach David Foster Wallace. Die Aufführung sei «nur für Zuschauer*innen ab 18 Jahren (…) Sie können die Aufführung jederzeit verlassen.» Wobei Letzteres meines Wissens für jede Vorstellung in allen Theatern gilt.

Den «Live-Sex» habe ich bisher bloss beschrieben gesehen, dafür in diversen Medien. Da stehen zwei in einem Glaskasten und tun es! Die ZuschauerInnen müssen anscheinend bei der Platzsuche daran vorbeigehen und hin- oder weggucken – eine Art Selbsttest für die eigene Verklemmtheit.

Aber der Sex dauert nur zehn Minuten, danach geht es verbal und schauspielerisch um toxische Männlichkeit, und zwar so, dass das Schauspielhaus begleitend fürs Publikum Veranstaltungen mit ExpertInnen für Gewaltprävention anbietet.

Im Vergleich dazu, was los war, als Eva Mattes 1972, damals siebzehnjährig, nackt auf der Bühne des Hamburger Schauspielhauses stand, passiert jetzt aber medial nicht viel. Mit seiner Warnung insinuiert das Schauspielhaus einen Skandal – und erhoffte ihn vielleicht auch ein bisschen –, der augenscheinlich nicht eintrifft, sieht man von ein paar Kommentaren auf 20min.ch oder blick.ch ab. Und das ist gut so.

Den «Live-Sex» führen zwei PornodarstellerInnen durch, für die Proben engagierte das Schauspielhaus eine Intimacy Coachin, deren Einsatz aber auch sinnvoll wäre, würde der Sex nur gemimt. «Nur mit echten Darstellern und echtem Publikum findet Performativität statt», sagt die Regisseurin laut «20 Minuten», «weil man wirklichen Menschen zuschaut, die sich ihrerseits der Zuschauer sehr wohl bewusst sind.»

Nun gut. Dieser Prämisse folgend, müsste ein Othello-Darsteller jeden Abend eine andere Desdemona erwürgen und Penthesilea diversen Achills die Kehle durchbeissen. – Wer möchte denn da noch SchauspielerIn werden?