Leser:innenbriefe: Mehr Zukunft für alle?

Nr. 42 –

«WOZ Jubiläumsausgabe», WOZ Nr. 39/2021

40 Jahre Wochenzeitung. Eine linke Zeitung, die genug Energie freisetzen konnte, um mit Schwung über die Gründergeneration hinauszukommen, ist ein starkes Signal und gibt reichlich Stoff, zu feiern. Es wäre auch ein Anlass zu Fragen nach den Gründen für diese Energie, den Motiven und den Kräften, die diesem Blatt die Treue hielten oder es immer neu für etwas hielten, das gehalten werden muss.

Dieses Jubiläum aber einfach an den Begriff der Zukunft zu binden und dies mit einem ganzen Sonderteil zu tun, ohne darin wenigstens zu diskutieren, wie zweifelhaft dieser Begriff in Theorie und Geschichte der Linken ist und dass «Zukunft» die wohl gegenwärtig am meisten ideologisierte Phrase darstellt, halte ich für keine gute Idee.

Man liest darin wenig darüber, wie eng die Zukunftsrede von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft und das allgemeine Herrschaftswissen zusammengehören. Man liest auch wenig über problematische Zukunftsbegriffe der Linken: Der Futurismus, obwohl vor allem Faschismusästhetik, faszinierte nachhaltig auch Teile der Linken. Immer aufs Neue findet sich im Lichte der Vernunft eine Fortschrittsoptik, die den Graben zwischen technischer Anpassung und Grenzen der Individuen zu leicht nimmt. Auch wird kaum zwischen Zukunft als Herrschaftsinstrument des Möglichen und Utopie als Unmöglichkeitsraum der Ohnmächtigen unterschieden und so weiter. Stattdessen gibt es viel Augenzwinkern und Zuversicht – not bad, aber für die Linke auch nicht so notwendig, wie man gerne glaubt.

Rolf Bossart, St. Gallen

2061: Wie sieht da die Welt aus? Ich habe in der Jubiläumsausgabe der WOZ wenig von erbauenden Visionen verspürt. Deshalb meine persönlichen Gedanken: Ich wohne in meinem städtischen Dreifamilienhaus, sicher privilegiert, schon jetzt mit Erdsonde und Solaranlage. Und dennoch: So wie heute kann es ja bis 2061 nicht weitergehen! Änderungen sind notwendig, aber welche? Meine Vision wäre, dass 2061 hier in diesem Haus immer noch drei Familien wohnen, aber ganz anders strukturiert: In der obersten Wohnung wird geschlafen, im Winter bei maximal 16 °C, im mittleren Stock wird gelebt und gearbeitet bei 18 °C, und im unteren Stock wird gemeinsam gekocht und gegessen, vielleicht auch ferngesehen (mit einem Gerät!).

Mit einer solchen Lebensweise sollte sich der Energieverbrauch halbieren lassen, sowohl beim Heizen wie auch beim Kochen. Die Stadt sollte 2061 so lebenswert sein, dass das Bedürfnis nach Fernreisen auf zwanzig Prozent gesunken sein wird, und neunzig Prozent der Leute arbeiten in einer Wirtschaft, die mit dem Zertifikat «gemeinwohlorientiert» gekennzeichnet ist.

Und wie stehts in Hochhäusern mit zwanzig Stockwerken? Da werden jeweils vier Stockwerke zu «Halensiedlungen» zusammengefasst. Isolation und Einsiedelei sind vorbei, auch im Alter. Gemeinschaftssinn und Gemeinwohl stehen im Zentrum. Die individuelle Freiheit blüht in der Verantwortung gegenüber und im Mitwirken an der Gemeinschaft auf. Das wäre meine Vision für das Jahr 2061. Der Unterschied in der Entwicklung zu heute wäre nicht vergleichbar mit dem von vor vierzig Jahren. Da hat sich wenig bewegt. Aber der Wandel wird dem entsprechen, was wir in den letzten 100 oder gar 150 Jahren erlebt haben. Dieser Wandel wird notwendig sein. Bleiben wir dran!

Niklaus Baltzer, Bern