Diesseits von Gut und Böse: Kalte Herzen

Nr. 45 –

In Zürich lenkte ein Mann sein Auto ungebremst in die Limmat, wo es im seichten Wasser auf dem Dach liegen blieb. Sofort sprangen elf Personen in den kalten Fluss, wuchteten das Auto – sich selbst gefährdend – mit vereinten Kräften herum und zogen den besinnungslosen Lenker raus.

Eigentlich ist der Mensch also ein hilfsbereites Wesen; doch die Aktivierung dieser Eigenschaft bedarf offenbar besonderer Voraussetzungen. Wer direkt danebensteht, wenn jemand in Not gerät, fühlt wohl eine Art atavistischen Reflex: Ein Kopf unter Wasser! Ertrinken! Rausholen!

Ertrinken Menschen «nur» in den Fernsehnachrichten, schwächt sich der Reflex sofort ab. Ganz zum Verschwinden bringen ihn Vorurteile: Die werden mir bloss alles wegnehmen, wenn ich sie rette. Und so versickert auch noch das letzte Restchen Empathie.

Anders kann ich mir nämlich nicht erklären, wieso im Kanton Zürich jetzt ein «Bund besorgter Bürgerinnen und Bürger» 3000 Unterschriften «gegen die Scheinlegalisierung von Sans-Papiers» gesammelt hat. Da hatte sich die Zürcher Stadtregierung doch endlich dazu durchgerungen, Menschen ohne gültige Ausweispapiere mit einer «Züri City-Card» wenigstens eine Teilhabe an grundlegenden Einrichtungen des Bildungs- und Gesundheitswesens zu ermöglichen –, doch die Damen und Herren von EVP, FDP, SVP und deren Jungparteien schämen sich nicht, das «unsinnige, illegale Projekt» zu bekämpfen.

Zehntausende Menschen ohne Papiere und Rechte leben und arbeiten mitten unter uns und bemühen sich verzweifelt, nicht aufzufallen. Das ist eine Realität, die nicht weggeht, indem man sie ignoriert.

Dass sich in einer der reichsten Städte der Welt «besorgte» Bürger:innen gegen diese Menschen zusammentun, zeugt von Herzlosigkeit, gepaart mit grenzenloser Dummheit. Auch Zweijährige meinen, die Welt verschwinde, wenn sie sich die Augen zuhalten.