Diesseits von Gut und Böse: Vom Volkscharakter

Nr. 48 –

Jedes Mal, wenn ich das Wort «unschweizerisch» höre oder lese, läufts mir kalt über den Rücken; denn wenn ich mir – entsprechend meiner ursprünglichen Heimat – parallel dazu vorstelle, jemand bezeichne etwas als «undeutsch», bekomme ich Gänsehaut beziehungsweise Hühnerhaut. Gänsehaut ist unschweizerisch. Im vergangenen Abstimmungskampf hatte das Wort «unschweizerisch» Hochkonjunktur, und beide Seiten waren sich sicher, das einzig Richtige damit zu meinen.

Als ich vor Jahrzehnten in die Schweiz kam, ging ich wie viele andere leichtfertig davon aus, (Deutsch-)Schweizer:innen und Deutsche seien sich ziemlich ähnlich. Jedenfalls sagte ich auch schon vorher in Dienstleistungsbetrieben, dass ich gern ein Brötchen oder ein Bier hätte, statt «Ich kriege!» zu brüllen. Ganz davon abgesehen, dass mich auch das nie störte, wenn es in ruhigem Ton vorgetragen wird, ich zähle es zu den regionalen Eigenheiten.

Die erste Definition, die ich für «schweizerisch» kennenlernte, umfasste viel Gutes: direktdemokratisch, freiheitlich, selbstbestimmt, neutral, friedlich, aber wehrhaft, und humanitär. Erst mit den Jahren lernte ich, dass es ebenso schweizerisch ist, trotz Neutralität und Humanität Waffen in Kriegsgebiete zu exportieren und den von dort Geflohenen den Schutz zu verweigern. Und dank Nachbarschaft und schweizerischem Filmschaffen kannte ich schnell die Bedeutung der Farbe vors Haus gestellter Abfallsäcke.

Heute überwiegt anscheinend die implizite Annahme, es sei «schweizerisch», etwas auszuhandeln, zu debattieren und einen Kompromiss zu finden, während es «unschweizerisch» sei, etwas lautstark und mit Gewalt durchsetzen zu wollen. Das tun für die einen glocken- und fahnenschwingende Impfgegner:innen, die andern sehen sich durch kampfbereit gezückte Spritzen bedroht.

Ich finde es übrigens sehr unschweizerisch, dass ein Viertel der Bevölkerung hier nicht mitbestimmen darf. Oder nein – gerade das ist ja total schweizerisch.