Ein Traum der Welt: Geboren 2001

Nr. 51 –

Annette Hug übt sich in koreanisch kühler Wut

Im Jahr 2021 gedachte die Schweiz der Einführung des Frauenstimmrechts vor fünfzig Jahren. Jubel und Kritik wechselten sich ab. Viel ist erreicht, vieles auch nicht.

Gar nicht jubeln am Weihnachtsessen wollte eine Frau, die vor kurzem ihre Lehre abgeschlossen hat. Sie ist Betreuerin in einer Tagesschule. Gerne würde sie von zu Hause ausziehen, kann sich das aber nicht leisten. Die Wohnungen sind sehr teuer in ihrer Stadt. Im Beruf, den sie gelernt hat, sind die Löhne tief. Die Stadt, die auch ihre Arbeitgeberin ist, zahlt zwar mehr als private Krippen, bietet aber keine Vollzeitstellen für Betreuer:innen an. Also kann die junge Frau nicht von ihrem Lohn leben.

Das erzählt sie am Weihnachtsessen so ruhig, als sei sie eine Figur aus Cho Nam-Joos Roman «Kim Jiyoung, geboren 1982». Das Buch feiert sein erstes Jubiläum: Vor fünf Jahren erschienen, wurde es bereits über zwei Millionen Mal verkauft. International. Das ist erstaunlich, denn die südkoreanische Autorin hält sich nicht an eine Grundregel, die an Schulen für kreatives Schreiben weltweit gepaukt wird: «Erzählen, nicht erklären!» Cho führt die Hauptfigur zwar anschaulich ein, flicht aber auch Statistiken und analytische Bemerkungen mit ein. In kühlem Ton lässt sie eine junge Frau ins ganz normale Verderben laufen.

Nicht dass ihr Mann ein Ekel wäre, im Gegenteil. Sie erlebt auch da und dort Unterstützung, zum Beispiel bei der Arbeit. Wehrt sich eine, ist offen, ob sie im Einzelfall gewinnt. Nichts müsste so sein, wie es ist. Und doch sitzt Kim Jiyoung bald mit einer Depression in der Vorstadtwohnung. Tückisch sind unsinnliche Faktoren: eine Hypothekarzinserhöhung, die Öffnungszeiten der Kinderkrippe, ein Algorithmus, der die Beleidigung «Sch-mama-rotzer» trenden lässt. Das Buch von Cho Nam-Joo hebt ab, wenn die junge Mutter plötzlich selbst mit dem Daumen im Mund im Bett liegt und wenn sie sachte beginnt, in Zungen zu reden.

Vor 25 Jahren ist es in der Schweiz geistreichen und ausdauernden Frauen aus der Bundesverwaltung und dem Parlament gelungen, das Wort «tatsächlich» in einen Gesetzestext zu schreiben. Der Bund sei verpflichtet, für «tatsächliche Gleichstellung» zu sorgen. Das heisst: Es reicht nicht, wenn per Gesetz Frauen und Männer dasselbe Recht haben. Das Gesetz soll dazu führen, dass Frauen und Männer tatsächlich denselben Lohn für gleichwertige Arbeit erhalten. So kann das Gleichstellungsgesetz eine Stadtverwaltung darin bestärken, Tagesschulen anzubieten, um einen bisherigen Konkurrenznachteil von Müttern zu beheben.

Wenn die Stadt aber gleichzeitig möglichst wenig Geld ausgeben will, senkt sie den Betreuungsschlüssel und das Niveau der Ausbildungen. Junge Teilzeitangestellte und Leute ohne Ausbildung sind am billigsten. Nicht zufällig sind sie grossmehrheitlich weiblich. Mit ihrem Verzicht auf einen anständigen Lohn sollen Berufsfrauen also die Gleichstellung für andere ermöglichen. Man könnte Schreikrämpfe kriegen. Nicht so die junge Betreuerin am Weihnachtsessen. Sie sagt ruhig, aber bestimmt: «Es geht nicht um Kinder, nur ums Budget.»

Wenn Cho Nam-Joo mit Sätzen dieser Art ein literarischer Welterfolg gelingt, könnten Betreuerinnen damit Feuer im Stadthaus legen?

Annette Hug ist Autorin in der Stadt Zürich. Wer ebenfalls dort wohnt, kann den offenen Brief «Betreuungsalarm» der Gewerkschaft VPOD unterzeichnen – damit der Betreuungsschlüssel in den Horten nicht per 1. Januar 2022 gesenkt wird.