Diesseits von Gut und Böse: Demokratische Dichtkunst

Nr. 2 –

Katrin Göring-Eckardt, Grüne Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, hat sich gerade öffentlich für eine Idee begeistert, die ihr jetzt links und rechts um die Ohren gehauen wird: Drei Schriftsteller:innen regen an, fürs Parlament eine Poetin oder einen Poeten zu engagieren.

Es sind Mithu Sanyal («Identitti»), Simone Buchholz (literarische Krimis) und Dmitrij Kapitelman («Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters») – und meines Wissens vernünftige Menschen. Es gehe nicht darum, bei Staatsanlässen Gedichte aufzusagen, erläutert Buchholz auf vorwaerts.de: «Als Person von aussen, die aber einen exklusiven Zugang hat, könnte sie die Sprache und damit die Arbeit der Abgeordneten für die Menschen ‹draussen› übersetzen.» Im Idealfall würden politische Debatten so zu gesellschaftlichen Debatten. Im kanadischen Parlament gibt es eine solche Position schon seit Jahren, und mit der Formulierung des Grundgedankens auf Twitter – «Mit Poesie einen diskursiven Raum zwischen Parlament & lebendiger Sprache öffnen» – belegt Göring-Eckardt die Notwendigkeit einer solchen Funktion gleich selbst.

Nun tobt die Debatte auch schon ohne Parlamentspoet:in, und sie trieft vor Polemik. Das überrascht nicht, denn auch die neue «Ampel» erweist sich gegenüber der Pandemie als nicht übertrieben tatendurstig. Auf Twitter wird gereimt («Rosen sind rot, Veilchen sind blau, Gendern ist scheisse, das weiss ich genau», «Menschen wollen wir schleppen, Seenot glauben uns die Deppen»), und auch im Feuilleton erheben vor allem jene ihr Haupt, die sich übers Gendern echauffieren.

Natürlich ist der Zeitpunkt denkbar schlecht, und in der Schweiz wäre die Idee ebenso chancenlos. Wer eine Bauern-, Waffen- und Wirtschaftslobby hat, braucht keine Poesie. Käme die Frage aber jemals auf den Tisch, schlüge ich Michael Elsener vor. Mit seinen Erklärvideos zu politischen Fragen übersetzt der Mann «die Arbeit der Abgeordneten für die Menschen ‹draussen›» brillant. Und lustig!