Rebell:innenrätsel: Der findige Postmeister

Nr. 3 –

«Ein Kerl wie Sie, der sich nächtelang auf dem Bodensee herumbolzt, kann auch ohne gegessen in die Kampagne», beschied ihm Wilhelm Liebknecht trocken. Doch der «Herumbolzer» war bereits seit vier Uhr auf den Beinen. Er widersetzte sich dem hochgeschätzten alten Sozialdemokraten und vesperte in Zürich erst einmal tüchtig, bevor er nach Kreuzlingen zurückfuhr, um die «Kampagne» voranzutreiben: Wieder einmal musste er neue Schmuggelrouten für die in der Schweiz gedruckte deutsche Parteipresse finden. Und er fand sie. Wie immer.

Der einfallsreiche Organisator war 1849 in einer badischen Weinbauernfamilie zur Welt gekommen und hatte kein schlechtes Leben – bis innerhalb kurzer Zeit die Eltern starben. Zehnjährig kam er in eine Pflegefamilie, und da kein Geld für ein Studium vorhanden war, erlernte er das Schuhmacherhandwerk. Bis zu sechzehn Stunden täglich hantierte er nun mit Feile, Hammer und Holznägeln, mit Ahle und Garn. Und er lernte gut. Als er 1867 auf Gesellenwanderung ging, lobten die Meister sein Können und seine Arbeitsmoral, obwohl er sich als Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) nichts gefallen liess.

Die Wanderschaft führte ihn unter anderem in das sankt-gallische Rheineck und ins badische Konstanz, wo er die aufblühende Arbeiter:innenbewegung als Vertrauensmann der SDAP und Gewerkschafter mitorganisierte. Dann machte er sich im thurgauischen Kreuzlingen als Schuhmacher selbstständig. Er kannte also die Grenzverhältnisse gut, als der deutsche Reichstag 1878 das sogenannte Sozialistengesetz erliess, rigoros «gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie» vorging und deren Organisationen und Zeitungen verbot.

Von da an sorgte der bald steckbrieflich gesuchte Schuhmacher dafür, dass die bei Zürich gedruckten Politschriften – allen voran die Exilzeitung «Der Sozialdemokrat» – über den Bodensee und den Rhein hinweg zu den Abonnent:innen gelangten. Zwölf Jahre lang führte er die deutsche Polizei an der Nase herum, «mit einer wahrhaft infernalen Kunst», wie ein Minister klagte. Bis das Sozialistengesetz, das der Arbeiter:innenbewegung grossen Zulauf beschert hatte, endlich aufgehoben wurde.

Wer war der 1927 verstorbene Rote Feldpostmeister, der das Schuhmacherhandwerk 1890 an den Nagel hängte und Verlagsprokurist wurde?

Wir fragten nach dem deutschen Sozialdemokraten Joseph Belli (1849–1927). Die vierseitige Wochenzeitung «Der Sozialdemokrat – Internationales Organ der Sozialdemokratie deutscher Zunge» erschien in der Schweizerischen Vereinsbuchdruckerei und Volksbuchhandlung Hottingen-Zürich. Die Auflage stieg in der Zeit des Sozialistengesetzes von 2700 Exemplaren auf über 10 000. Beinahe alle Ausgaben erreichten die Abonnent:innen pünktlich. 1890 wurde die Exilzeitung eingestellt; Belli liquidierte das Hottinger Druckereiinventar und wurde Mitarbeiter des Stuttgarter Verlags J. H. W. Dietz. Näheres zum deutsch-schweizerischen Schriftenschmuggel (der sogenannten Roten Feldpost) und zu Joseph Belli ist nachzulesen in: «Druck. Machen. Eine etwas andere Stadtgeschichte von Konstanz» von Ralph-Raymond Braun, Patrick Brauns, Pit Wuhrer und Margrit Zepf, Querwege Verlag, Konstanz 2021.