Rebell:innenrätsel: Die Aufklärerin
Sie wollte weder den Kapitalismus abschaffen noch die Geschlechterrollen aufbrechen. Frauen mussten jedoch durch Bildung in die Lage versetzt werden, sozial verantwortungsvoll zu handeln. Deshalb war sie begeistert, als sie 1903 von der Idee hörte, in der Schweiz eine «Käuferliga» zu gründen: Den wohlhabenden Konsumentinnen sollten mittels weisser Listen jene Unternehmen aufgezeigt werden, die gute Arbeitsbedingungen boten. Denn was wussten die Frauen der Oberschicht schon vom Leben der Arbeiterinnen und der Angestellten? War ihnen klar, dass ein Bäckergeselle nur deshalb die Nacht durcharbeitete, damit sie jeden Morgen frisches Brot bekamen? Dass eine Verkäuferin nie absitzen durfte und nach einem langen Arbeitstag auch noch Überstunden schieben musste, wenn sich kurz vor Ladenschluss jemand Dutzende Waren vorführen liess (um dann doch nichts zu kaufen)? Und dass die beliebten Damenstrickmäntel unter menschenunwürdigen Umständen und zu einem kargen Stücklohn hergestellt wurden?
Die 1854 in Paris geborene Bankierstochter gehörte selbst zu den Bessergestellten. Obwohl bereits mit acht Jahren Vollwaise und bei Pflegeeltern (meist in der Westschweiz) aufgewachsen, war sie durch ihr Erbe finanziell gut abgesichert. Als sie mit zwanzig einen wesentlich älteren polnischen Grafen heiratete, schlug ihr Herz gerade für das damals vom russischen Zaren geknechtete Volk. Sie zog auf sein Anwesen in Polen, eröffnete eine Dorfschule, wurde jedoch nicht glücklich. Die Ehe blieb kinderlos, sie erkrankte. Bei einem Kuraufenthalt in Leukerbad begeisterte eine Ärztin sie dann für die Ideen der Frauenbewegung. Das brachte die Wende.
Sie liess sich scheiden und studierte, inzwischen dreissigjährig, in Genf Medizin. Dann traf sie Helene, zog mit ihr zusammen – ihr Haus in Bolligen wurde bald ein Zentrum der internationalen Frauenbewegung –, gründete mit ihr den Bund Schweizerischer Frauenvereine, vernetzte, organisierte, lobbyierte. Und bekleidete daneben das Präsidium der 1906 gegründeten Sozialen Käuferliga der Schweiz, dank derer Konsument:innen über vier Jahrzehnte hinweg für die Arbeitsbedingungen von Fabrik- und Heimarbeiterinnen, Serviceangestellten oder Kleinhandelsreisenden sensibilisiert wurden.
Wer war die früh ertaubte, 1927 verstorbene Fairtradevorkämpferin, die überzeugt war, dass, wer kauft, Macht hat und dass Macht verpflichtet?
Wir fragten nach der Schweizer Frauenrechtlerin und Sozialaktivistin Emma Pieczynska-Reichenbach (1854–1927). Ihr Medizinstudium konnte sie nicht abschliessen, da sie ertaubte. 1898 veröffentlichte sie ein in konservativen Kreisen umstrittenes, faktenbasiertes Buch zur Sexualerziehung. Ihre Lebensgefährtin war Helene von Mülinen (siehe WOZ Nr. 16/18); die Ärztin, die sie in Leukerbad getroffen hatte, war die englische Frauenrechtlerin Harriet Clisby. In der Sozialen Käuferliga engagierten sich zeitweise auch Clara Ragaz (siehe WOZ Nr. 45/15) und Regina Kägi-Fuchsmann (siehe WOZ Nr. 14/21). Sie löste sich 1945 auf, nachdem es gelungen war, in der Schweiz ein gesetzlich geschütztes Label für sozial fortschrittliche Lohn- und Arbeitsverhältnisse einzuführen. Die Historikerin Anina Eigenmann hat über die Soziale Käuferliga das Buch «Konsum statt Klassenkampf» (Chronos, 2019) geschrieben.