Diesseits von Gut und Böse: Lebe dein Leben

Nr. 10 –

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Cassis

Am 6. März haben Sie zum «Tag der Kranken» gesprochen, und weil Omikron mich jetzt doch noch erwischt hat, erlaube ich mir, Ihnen zu schreiben.

Ihnen gings ja ähnlich. Kaum hatten Sie im Fernsehen gesagt, es sei ein «Freudentag», wurden Sie positiv getestet. Symptome hatten Sie keine. Ich schon.

Keine Ahnung, wo ich mich angesteckt habe. In Ihrer Nähe war ich ja nicht, sonst hätte ich das glatt für möglich gehalten, so wie Sie da in der Pressekonferenz in die Hand gehustet, mit Ihrer Maske gewedelt, sie geknetet und gestreichelt haben. Das sind ja die Sachen, die man nicht machen soll. Aber gut.

Als Sie am Sonntag auf Twitter sagten: «Am heutigen ‹Tag der Kranken› lade ich Sie ein, an jene Menschen zu denken, die trotz einer schwierigen Situation versuchen, ihr Leben so gut es geht zu gestalten», hab ich mich jedenfalls sofort angesprochen gefühlt.

Aber damit, was Sie noch gesagt haben – «Unterstützen wir uns gegenseitig, das Motto ‹Lebe dein Leben› mit Leben zu füllen!» –, kann ich ehrlich gesagt überhaupt nichts anfangen. Was soll ich denn sonst tun? Wenn ich mein Leben nicht lebe, bin ich tot. Meines hab ich in der letzten Woche hustend, rotzend, schleimspuckend und fiebrig im Bett gelebt; unterstützt haben mich Freundinnen und Nachbarn – und ganz sicher nicht Sie!

Vielleicht erinnern Sie sich, wie Ihr Amtsvorgänger Schneider-Ammann beim gleichen Anlass todernst in die Kamera sagte: «Rire, c’est bon pour la santé», woran weniger die Botschaft als deren Form die Nation erheiterte. Da hab ich wenigstens gelacht.

Das ist mir inzwischen komplett vergangen. Nicht nur Ihretwegen, sondern wegen der Inkompetenz, die Ihr Gremium als ganzes gegenüber sämtlichen Krisen, die auf uns einstürzen, an den Tag legt.

Nicht ganz so freundlich grüsst
Karin Hoffsten