Von oben herab: Kein Witz

Nr. 19 –

Stefan Gärtner über seinen Kurztrip in die Schweiz

Hat man Kinder, ist es leichter, zu bestimmen, wie lange etwas nun wieder her ist, denn als ich zuletzt in Basel war, waren wir schwanger, und bei meinem letzten Besuch in Winterthur ging mir Ruedis Ältester erst bis halbe Höhe Oberschenkel.

Lang war ich nicht mehr in der Schweiz gewesen, bis die WOZ mich auf ihrem Jubiläumsfest empfing, wo ich nicht nur mein Ziel erreichte, der Einzige mit Einstecktuch zu sein (Abschlussredaktor B. trug dafür Fliege!), sondern von oben bzw. der Bühne herab auch meine Methode erklärte, die darin besteht, die Bausteine Käse – Kantönli – Widmer – Maurer (Ueli) in immer neuen Variationen so zu stapeln, dass sich bei geringstem Aufwand zwei Dutzend Kolumnen im Jahr ergeben. Ohne Klischee geht es nicht: Das gilt unbedingt für den Witz und mit Einschränkung für die Kolumnistik, welche gut daran tut, hin und wieder die Wirklichkeit zu konsultieren. Denn tatsächlich ist die Schweiz ja gar nicht so, wie sie bei mir vorkommt, so sauber, akkurat und reibungslos funktionierend, aber auch so hübsch, geordnet und sagenhaft gut designt, so wohlhabend, proper und gediegen; in Wirklichkeit ist ja auch die Deutsche Bahn gar nicht so verspätet, kaputt und überfüllt.

Alles Unsinn, also: dass es nicht so sei. Die Sache mit dem Klischee ist nämlich die, dass es stimmt, wie der Kitsch gewiss der Feind der Kunst ist, im Leben aber so fest verzurrt, dass man beide miteinander verwechseln mag. Als in der deutschen «Sendung mit der Maus» zuletzt eine trans Frau mit lackierten Fingernägeln und Stöckelschuhen auftrat, beschwerte sich die Community, hier würden Klischees bedient, und falls Julian, der jetzt wohl anders heisst, ein Klischee ist, so ist er doch eins aus Fleisch und Blut. Dass das Leben originell sei, stimmt nun mal nicht, und wer die dialektische Wahrheit über die Tätowierungsmanie sucht, findet sie hier.

Jedenfalls stehe ich mit Ruedi spät und sterbensmüde auf dem S-Bahn-Perron von Zürich HB, und im Gleisbett liegt: nichts. Kein Papierfitzel, keine Schokoriegelfolie, kein benutztes Taschentuch. «Ich weiss auch nicht, ob sie das saugen», sagt Ruedi, und er sagt es sehr langsam, mit passend schweizerischem Tempo, und ich glaube zu wissen, wie es etwa im Gleisbett der S-Bahn-Station von Frankfurt (Main) Hbf aussieht, nämlich anders.

Auf dem Weg zum Bahnhof am nächsten Morgen achte ich darauf, und es liegt wirklich nichts auf der Strasse. Winterthur liegt da wie frisch gesaugt, aber auch so hübsch, gediegen und proper, wie schon Basel in der Sonne gelegen hatte, wo der Argwohn, Leben müsste doch mehr sein, als aus «Jakob’s Basler Leckerly» zum Hutmacher Risa zu stolpern (gleich gegenüber), immerhin momentweise verflogen war. Was über das Klischee zu wissen ist, dann aber auf der Heimfahrt, die in Winterthur in einem blitzsauberen Zug der SBB beginnt, der auf die Sekunde pünktlich in Schaffhausen einrollt, und auf die Sekunde pünktlich starten die SBB auch in Schaffhausen; und es ist, ich schwöre, kein Witz: dass der Zug, der so einwandfrei in der so einwandfreien Schweiz gestartet ist, im deutschen Grenzbahnhof Singen stehen bleibt, «wegen einer technischen Störung», erst zehn, dann zwanzig Minuten, und dann überhaupt nicht mehr weiterfährt. Der Rest der Heimfahrt, die mit einem zweistündigen Ritt auf der Schwarzwaldbahn beginnt, ist aus einem schlechten Comedyprogramm kopiert: Im ICE ist die Klimaanlage kaputt, das Klo kaputt, die Reservierungsanzeige kaputt, die Tür kaputt, und die junge Dame, die hinter mir stundenlang telefoniert, hat «einen günstigen Flug auf die Seychellen» gebucht, und beim Aussteigen muss ich denken, so sieht sie auch aus.

Es ist, wie es ist, und es ist fürchterlich, steht irgendwo bei Thomas Bernhard. In der Schweiz ist es dabei wenigstens hübsch, und die Züge fahren. Auf bald!

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop/buecher.