Diesseits von Gut und Böse: Von stark zu starr

Nr. 44 –

Alice Schwarzer las in Zürich aus ihrem «Lebenswerk». Im ausverkauften Saal empfing sie tobender Applaus, mögliche Kritiker:innen blieben mehrheitlich vor der Tür. Dort verteilten ein paar junge Frauen Handzettel – «Kein Platz für Alice Schwarzer» –, leider ohne Hinweis darauf, wer sie sind.

Schwarzer gelingt zweifellos ein amüsanter Abend. Schlagfertig schöpft sie aus einem sprudelnden Quell schräger Anekdoten, die vor allem aus jener Zeit stammen, als sie ihren unbeirrbaren Kampf gegen das Patriarchat führte – einen Kampf, von dem wir heute profitieren.

Das Problem ist nur, dass sie ihre Standpunkte zu aktuellen Themen mit derselben Vehemenz vertritt wie einst die Sache der Frau und sich dabei mit Differenzierungen nicht gross aufhält. «Altfeministin» hört sie nicht gern, bei jungen Feministinnen vermisst sie historisches Bewusstsein.

Vielen jungen Frauen, bricht es aus ihr heraus, sei gar nicht bewusst, dass Kleider Signale aussenden. Bei manch einer, die an einer Strassenecke stehe, wisse man ja nicht, wartet die jetzt auf ihren Freund oder … Es muss nicht ausgesprochen werden. Schon meine Mutter fand, wenn ich mich zur Schule aufmachte, ich sähe aus wie ein Flittchen. Das war in den Sechzigern. Eine Mutige im Publikum sagt: «Das ist Victim Blaming!» – es geht unter.

Auf den Krieg angesprochen, bleibt Schwarzer beim Inhalt ihres offenen Briefes: Man könne doch nicht ein Land mit immer mehr Waffen versorgen, wenn der Aggressor mit dem Einsatz des weltweit grössten Atomwaffenarsenals drohe. Haha, «Putin-Versteherin» nenne man sie jetzt – was denn schlecht daran sei, den Gegner verstehen zu wollen? Dass Nazideutschland, das sie selbst mit Jahrgang 1942 noch erlebte, nur unter Waffengewalt kapitulierte, blendet sie aus.

Auf ihr aktuelles Lieblingsthema, den Kampf gegen das deutsche Selbstbestimmungsgesetz für trans Personen, spricht sie niemand an. Zum Glück.