Diesseits von Gut und Böse: Ein Stellvertreter ging

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Das menschliche Hirn kann sich vieles ausdenken, Romanzyklen, Kochbücher, die Glaubenssätze der katholischen Kirche oder auch folgendes Szenario: Am letzten Tag des Jahres 2022 klopft der Papa emeritus an die Himmelstür. Der Chef öffnet persönlich und empfängt ihn mit den Worten: «Wurde Zeit, dass du endlich da bist, Joseph! In dem Saftladen da unten wirds ja immer schlimmer, und gerade du hast wahrlich nichts dazu beigetragen, dass sich mal was ändert. Im Gegenteil!»

Denn der Lebensinhalt von Benedikt XVI. war: bewahren, bewahren und nochmals bewahren und zwischendurch theologische Schriften verfassen. «Sein entscheidendes Bildungserlebnis war das heilige Erschrecken über die Studentenbewegung von 1968», heisst es in einem Nachruf der «Welt», die er sich auch selbst anlastete, weil er als akademischer Lehrer «gern mit Marx-Zitaten gespielt» habe. Eine verwegene Kausalverknüpfung.

Von Joseph Ratzingers «bescheidenem, stillem Wesen» schwärmt auf kath.ch auch ein ehemaliger Vizekommandant der Schweizergarde. So still, dass er, als ihm einst im Erzbistum München und Freising, wo er als Erzbischof amtete, gerichtlich festgestellte Missbrauchsfälle zu Ohren kamen, immer noch keinen Mucks tat: Die Täter blieben im Amt. Nicht sehr bescheiden wirkt hingegen die von ihm initiierte Wiedereinführung alter Messegewohnheiten in Seiden-, Damast- und Brokatgewändern.

Im Übrigen übertrieb der Chef nicht, sein irdisches Unternehmen einen «Saftladen» zu nennen, denn hinter dem ehemaligen und dem amtierenden Stellvertreter stehen jeweils rivalisierende Fangruppen, die so lustvoll intrigieren, dass der Tabernakel wackelt. Und die damit auch nicht aufhören werden.

Bleibt die Frage, wieso weltweit Millionen glauben, ausgerechnet in diesem Saftladen das bescheidene Wirken des Menschensohns wiedererkennen zu können. Aber wie gesagt: Das menschliche Hirn kann sich vieles ausdenken.