Marc Rudin (1945–2023): Ein talentierter Revolutionär

Nr. 16 –

Er war Grafiker und politischer Aktivist, spielte auf dem Cello Schweizer Volksmusik, kämpfte für die linke Volksfront für die Befreiung Palästinas und sass wegen eines Postüberfalls jahrelang im Gefängnis.

Marc Rudin Anfang 2016
Im Herzen ein Palästinenser: Marc Rudin Anfang 2016. Foto: Ennio Leanza, Keystone

Vergangene Woche ist in Zürich Marc Rudin im Alter von 77 Jahren gestorben. Er war eine wichtige Figur des sozialen Aufbruchs der sechziger Jahre. Zur Mythenbildung gehört, wie er vor der ersten Vietnamdemonstration in Bern im Juni 1968 auf der Spitze des hundert Meter hohen Münsterturms die Fahne des Vietcong hisste. Ganz oben war er allerdings nicht, wie er jeweils selbst berichtigte, das sei die Leistung alpinistischer Profis gewesen.

Marc Rudin ist in Bern in einer bürgerlichen Familie aufgewachsen. Er machte eine Lehre als Grafiker, die er mit Bestnoten abschloss. Politisiert wurde er Mitte der sechziger Jahre. Er gehörte zu jenen, die den Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung in die Berufsschulen und Industriebetriebe hineintrugen. Er begann, Plakate und Schablonen für Mauersprays zu fertigen, die die oft abstrakten Forderungen der neuen Linken in eine verständliche Bildsprache übersetzten.

Agitation in der Fabrik

Marc steckte voll Lebensfreude, festete und zog durch die Stadt. Er spielte Cello, Gambe und Kontrabass und fertigte Saiteninstrumente an. Er spielte allein und in wechselnden Gruppierungen, auf der Strasse, an Festivals und Festen, am liebsten herkömmliche Volksmusik. Sagenhaft, wie er mit der einen Hand auf ein selbstgebautes Saitentamburin schlug und dazu die Einhandflöte blies.

Marc war sehr jung Vater geworden und hatte für die Familie zu sorgen. Schon bald übersiedelten sie nach Paris, eine Werbeagentur hatte ihm eine gut bezahlte Stelle angeboten. In der Rolle als Ehemann und Vater einer Tochter hat er nicht brilliert. Er war, wie viele dieser militanten 68er-Helden, meist in Sachen Revolution unterwegs, die Familienarbeit überliess er seiner Frau.

Die Pariser Jahre 1969 bis 1971 waren für Marc politisch prägend. Er engagierte sich als politischer Zeichner bei der «Gauche prolétarienne», einer maoistischen Partei, hervorgegangen aus dem Pariser Mai 1968, in Abgrenzung von der Kommunistischen Partei Frankreichs und der grossen Gewerkschaft CGT. Ihn interessierte die Arbeit an der Basis, wie in den «Comités de lutte» beim Autohersteller Renault, wo es möglich war, die Agitation direkt in den Betrieb hineinzutragen. Er kam in Kontakt zu nordafrikanischen Immigrant:innen, die sich durch ihre eigene Kolonialgeschichte mit den Anliegen der Palästinenser:innen identifizierten. Marc wurde immer mehr zum Internationalisten.

1972 kehrte er nach Bern zurück, wo er sich weiter in der ausserparlamentarischen Linken engagierte. Eine Zeit lang heuerte er auch bei General Motors in Biel als Arbeiter in der Autoproduktion am Fliessband an. Der Journalist Roger Monnerat lernte Marc damals kennen und beschrieb ihn später in der WOZ als «eine Figur aus der Jahrhundertwende, ein Handwerker-Intellektueller, Anarchist in Abgrenzung zu SozialistInnen, Sozialist in Abgrenzung zu AnarchistInnen».

Flucht aus der Schweiz

1979 wurden zwei Freunde Rudins wegen eines Sprengstoffanschlags auf die spanische Imef-Bank in Fribourg verhaftet. Die Bank stand dem reaktionären Geheimorden Opus Dei nahe. Marc galt als Mittäter und wurde in Abwesenheit zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Hals über Kopf hatte er damals die Schweiz verlassen. Er entschied sich für die Flucht in den Libanon, wo er sich bereits 1976 kurz aufgehalten hatte. «Es war ein hartes Umlernen, mich an die Realität im Exil zu gewöhnen», erzählte er später der WOZ.

Er begann, für die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) als Grafiker zu arbeiten, die für ein sozialistisches, säkulares Palästina kämpfte, Anschläge verübte und Flugzeuge entführte. Er lernte Arabisch, auch die schwierige Schrift, und gestaltete Agitationsplakate und Titelblätter des mehrsprachig erscheinenden PFLP-Magazins. Marc Rudin wurde zu Jihad Mansour, nach zwei Jahren trat er auch als Mitglied in die PFLP ein. Die PFLP ist eine marxistisch-leninistische Kaderpartei – ein Wandel vom antiautoritären Freigeist zum strammen Parteisoldaten? Der totale Individualismus habe unter den Bedingungen vor Ort nicht mehr gepasst, sagte er der WOZ. Und was er auch lernte: Von Europa aus sieht alles etwas anders aus.

Erst in Damaskus, dann im Gefängnis

Während der israelischen Invasion in den Libanon 1982 nahm Marc an der Seite der PFLP auch als Kämpfer teil. Danach arbeitete er weitere neun Jahre in Syrien für die PFLP. 1991 wurde er an der syrisch-türkischen Grenze wegen angeblich illegalen Grenzübertritts verhaftet. Er verbrachte eineinhalb Jahre in einem türkischen Gefängnis, dann wurde er nach Dänemark ausgeliefert.

Angeklagt war er wegen Beteiligung an einem Postüberfall der sogenannten Blekingegaden-Bande in Kopenhagen, bei der ein Polizeibeamter ums Leben gekommen war. Marc sei von der PFLP als «fünfter Mann» für diesen Coup entsandt worden. Er selber bestritt, zum fraglichen Zeitpunkt in Dänemark gewesen zu sein. Die Blekingegaden-Bande unterstützte durch Raubüberfälle auf Banken und Postämter Befreiungsbewegungen im Trikont. Ihre Mitglieder hinterliessen keine Bekennerschreiben, die meisten hatten eine parallele Identität mit Erwerbsarbeitsstellen und Familienleben. Von den acht Jahren Gefängnis, zu denen Marc verurteilt worden war, musste er fünfeinhalb Jahre absitzen, von den anderen Gefangenen isoliert.

Eine Freundesgruppe kuratierte 1993 in der Schweiz anlässlich seines Prozesses eine Wanderausstellung zu Marc Rudins / Jihad Mansours politischer Gebrauchsgrafik. Es sind Werke auf künstlerisch höchstem Niveau. Ich selbst empfinde dabei bis heute auch etwas Unbehagen angesichts dieses martialischen Heroismus.

Kampf gegen Parkinson

1997 wurde er an die Schweiz ausgeliefert – hier kam er endlich frei, weil die früheren Anschuldigungen verjährt waren. Marc fand eine Stelle als Lehrer an der Berufsschule für Gestaltung in Zürich und unterrichtete mit Freude bis zu seiner Pensionierung 2011. Ich habe ihn erst vor etwa zwanzig Jahren selbst kennengelernt, er brachte mir die Volksmusik nahe. Wir wurden zu einer Gruppe von vier, fünf oder sechs Spielenden und trafen uns wöchentlich bei ihm zu Hause.

Vor etwa zehn Jahren wurde bei ihm eine beginnende Parkinsonerkrankung diagnostiziert. Er führte auch gegen seine Krankheit einen Kampf, trainierte mit anderen an Parkinson Erkrankten an der Kletterwand, raste mit dem Rollator durch die Gegend und wohnte, solange es nur irgendwie zu verantworten war, allein in den eigenen vier Wänden. Seinen politischen Überzeugungen blieb er treu. Im Herzen, sagte er, sei er Palästinenser.