Diesseits von Gut und Böse: Vier Minuten

Nr. 37 –

Eigentlich ist es ja ihre Wohlerzogenheit, die primär ins Auge springt. Sie sprechen ruhig, halten still, kleben ihre Hände dorthin, wo der Leim auch wieder abgeht. Doch betrachtet man die Resonanz auf ihr Handeln, könnte man fast meinen, Klimaaktivist:innen zögen durchs Land wie IS-Krieger im Blutrausch durch Rakka.

Am letzten Sonntag «stürmten» zwei junge Leute die Konzertbühne im KKL Luzern – es sah sportlich, aber recht manierlich aus –, hockten sich vors Dirigentenpult und klebten dort je eine Hand fest. Den Zugang zum Saal hatten sie nicht brachial erzwungen, sondern sie hatten auf bezahlten Plätzen gewartet. Während die junge Frau ihre Stimme erhob, liess Dirigent Wladimir Jurowski Anton Bruckners Vierte Sinfonie zunächst leise weiterspielen. Als aus dem Publikum empörte Rufe und Beschimpfungen ertönten, bat er, die beiden anzuhören, er habe es ihnen versprochen. Wenn nicht, gehe er selbst von der Bühne, weil er sonst nicht Wort halten könne.

Also sagte die junge Frau, was sie sagen wollte, Publikum und Dirigent hörten zu, Jurowski gab den Aktivist:innen die Hand und das Konzert ging weiter. Dauer der Störung: maximal vier Minuten. Denn natürlich war es eine Störung. Aber vielleicht kennt Wladimir Jurowski ja den Grundsatz «Störungen haben Vorrang».

Wie die bürgerliche Welt ansonsten auf solche Aktionen reagiert, sprengt längst jede Dimension üblicher Kommunikation. Da entlädt sich eine Wut, deren Wucht in keinem Verhältnis zum Anlass steht. Ob Aktivist:innen Tomatensuppe aufs Schutzglas vor einem Kunstwerk spritzen, sich auf Strassen festkleben, auf denen schon vorher Stau war, oder eben ein Konzert stören – die anständige Bürgerin und der anständige Bürger schreien auf, werden handgreiflich, fordern lange Gefängnisstrafen oder Schlimmeres. Auf X, ehemals Twitter, empörte sich die Vizepräsidentin der FDP BS: «Das grenzt an Klimaterrorismus.»

Auch ich habe meine Zweifel, ob die Aktionen zielführend sind. Aber bei der Ignoranz, die die westliche Welt gegenüber wissenschaftlichen Tatsachen an den Tag legt, möchte man doch den Kopf in die nächste Wand rammen. Was auch nicht zielführend wäre.

WOZ Debatte

Diese Debatte ist abgeschlossen. Diskutieren Sie bei unseren aktuellen Themen mit! Wenn Sie eine Anmerkung zu diesem Artikel haben können Sie auch gerne einen Leser:innenbrief schreiben.

Kommentare

Kommentar von Philipp Horn

Fr., 15.09.2023 - 17:17

Volle Zustimmung