Diesseits von Gut und Böse: Anständige Millionen

Nr. 4 –

Auf die Frage «Braucht es Lohnobergrenzen?» antwortete die Schweizer Finanzministerin der «NZZ am Sonntag»: «Nein. Aber es braucht Anstand.» Die Frage bezog sich auf die Lohn- und Bonusexzesse, die man nicht nur von der untergegangenen Credit Suisse her kennt.

Denkt die Frau Bundesrätin tatsächlich, es sei eine Frage von Sitte und Schicklichkeit, wie viel Geld jemand bei sich selbst für angezeigt hält? Glaubt sie, wer höflich Danke und Bitte sagt und weiss, in welcher Reihenfolge bei Tisch das diverse Besteck eingesetzt wird, könne auch beurteilen, was eine ihm und ihr angemessene Entlöhnung sei?

Nun, auch KKS traue ich einen etwas breiteren Anstandsbegriff zu. Selbst Freiherr von Knigge, heute vor allem als Erfinder strenger Benimmregeln bekannt, verstand unter Anstand «ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind», ohne die es bloss schöner Schein sei.

Aber auch unter Einbezug ethischer Kriterien: Den weltweit verbreiteten Hang zu Lohnexzessen auf eine Frage des Anstands zu reduzieren, ist bestenfalls naiv. Es vernebelt die Tatsache, dass der Kapitalismus gar nicht anders kann, als immer mehr Wachstum zu produzieren, von dem nur wenige profitieren. Oder banal ausgedrückt: dass Reiche immer reicher werden. Und reicher werden wollen! Da auf anständige Zurückhaltung zu setzen, ist weltfremd. Und für eine Finanzministerin peinlich.

Bleibt die Frage, wo die Grenzen des Anstands denn sind. Diesseits oder jenseits der fünfzehn Millionen, die Severin Schwan – damals noch CEO der Firma Roche – 2022 verdiente? Dagegen nehmen sich die 4,8 Millionen, die man Colm Kelleher, Verwaltungsratspräsident der UBS, in seinem ersten Jahr zubilligte, ja hochanständig aus. Und wie anständig ist die knapp halbe Million, die unsere Magistrat:innen verdienen, vergleicht man sie mit Jahresgehältern «normaler» Lohnempfänger:innen?

Die österreichische BASF-Erbin Marlene Engelhorn beweist übrigens, dass es auch anders geht. «Als reiche Erbin bin ich in eine Machtposition hineingeboren», sagt die junge Frau im «Tages-Anzeiger»-Interview: «Diese Macht möchte ich demokratisch abgeben.» Sie demonstrierte am Wef für «Tax the Rich!» und spendet 25 Millionen, rund neunzig Prozent ihres Erbes, der Allgemeinheit. Das nenne ich Anstand.