Von oben herab: ESC? BCD und ICE!
Stefan Gärtner über ein bisschen Frieden, Sahra Wagenknecht und die Augenärztin
Mir ist der ESC egal, egal auf eine Weise, die wirklich absolut ist. Taylor Swift ist mir auch egal, aber da hatte ich immerhin den Antrieb, sie mir auf Youtube einmal anzuhören, um mir mein Vorurteil, sie sei mir egal, bestätigt zu finden. «Egal» ist dabei kein Qualitätsurteil, nur geht Popmusik mich nichts mehr an. Ich kaufe überhaupt nur noch Platten von Bands, die ich früher schon mochte, bin dann meistens mild enttäuscht und habe darum mit dem Jazzhören angefangen, Chet Baker, John Coltrane, Miles Davis, das kleine BCD sozusagen.
Der ESC ist mir dagegen so egal, dass ich nicht einmal der Verlockung widerstehen muss, mir das Siegerlied anzuhören, denn die gibt es nicht. 1982 war ich als Achtjähriger live am Fernseher dabei, als Nicole für «Ein bisschen Frieden» warb, und blieb die nächsten Jahre dran, bis sich mein Erwachsensein in der Einsicht verdichtete, für Pyrotechnik und Frisurenlärm nichts übrigzuhaben. Der Song Contest ist mir heute so wurscht, dass er mich nicht einmal ärgert, und wenn er, wie ich in meiner Morgenzeitung las, als solcher zur queeren Emanzipation beiträgt, soll es mir recht sein.
Nemo, siegreich für die Schweiz, ist bekanntlich nichtbinär, und gleich fragt der «Tagi», ob in der Schweiz dann bald mal das dritte Geschlecht in den Reisepass darf. Da hat sich der Quatsch doch schon gelohnt.
Rechte und linke Konservative eint ja der Argwohn, «Diversität» sei nichts weiter als ein falsches Versprechen, das symbolische Gleichheit statt materieller biete. Das ist ein gefährliches Argument, weil Rechte das soziale Interesse nur vorschieben und Sahra Wagenknecht insinuiert, es gebe einen Zusammenhang zwischen Genderklo und fehlendem Sozialismus. Aber abgesehen davon, dass auch Fliesenleger und Busfahrerinnen trans sein können, kommt der Sozialismus fürs Erste sowieso nicht, und da sollen die Leute wenigstens mit ihrem Geschlecht im Reinen sein dürfen. Ein Verbot von Diversität brächte den Kapitalismus ja nicht aus der Welt, sondern wäre im Gegenteil sein böser faschistischer Bruder.
Und doch versteht niemand unter Diskriminierung, wenn das Geld für den Schulausflug fehlt. Während die Fortschritte auf dem Feld von Sex & Gender wirklich atemberaubend sind, herrscht im übrigen Stillstand, ja wird es sogar immer schlechter: In Deutschland gilt ein Fünftel der Jugendlichen als «abgehängt», als bildungsfern und perspektivlos, die Zahl hat sich seit Jahrzehnten nicht bewegt. Inflation und rasant gestiegene Mieten haben dafür gesorgt, dass die Armutsgefährdung tief ins bürgerliche Milieu vorgedrungen ist, und für Angehörige einer gesetzlichen Krankenkasse kann es zum Geduldsspiel werden, einen Termin beim Facharzt zu bekommen: Wer im April bei der Augenärztin anruft und nicht privat versichert ist, darf im August erscheinen und hat noch Glück gehabt, überhaupt kommen zu dürfen.
Das alles ist so bekannt wie die Rufe nach einer «Bürgerversicherung» für alle, die um so weniger kommen wird, je öfter sie in irgendwelchen Wahlprogrammen auftaucht. Es ist auch nicht damit zu rechnen, dass ein:e ESC-Sieger:in die Sache der Bürgerversicherung oder des kostenlosen Schulessens voranbringen wird, und zwar kennt Popmusik die Aufstiegsgeschichte, aber doch eher als eine, in der das Ghetto-Kid anfängt, Ferraris zu sammeln. Die Reklame der Deutschen Bahn ist streng divers, doch ICE fährt nur, wer es sich leisten kann. Dafür kann Nemo so wenig wie Kim de l’Horizon, und weniger Diskriminierung ist weniger Diskriminierung, Punkt.
Das Ressentiment, das findet, es solle statt um Gendersterne mal um bezahlbare Mieten und soziale Gerechtigkeit gehen, soll man trotzdem ernst nehmen, denn dass vorm Supermarkt die Regenbogenfahne weht, ist zwar kein Grund dafür, dass der Markt nicht volkseigen ist, aber ein Hinweis darauf.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.
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