Sachbuch: 127 Fragen, jedoch nicht ganz so viele adäquate Antworten
Das Buch «Kein Land in Sicht?» des deutschen Journalisten Johannes Zang bietet für unseren Rezensenten trotz Schwächen einen lehrreichen Pfad durch das «Nahostgestrüpp».
Mein Dilemma beim Rezensieren von «Kein Land in Sicht?» stellt sich schon bei der Vielzahl der Fragezeichen ein, die sich durch diese eigentlich wertvolle Publikation ziehen. Und beim Anspruch des Autors, auf jede der Fragen eine Antwort zu kennen.
Die acht Kapitel – von «1. Von der frühesten Zeit bis 1967» bis «8. Der Krieg ab dem 7. Oktober 2023 und seine Folgen» – handeln vom aktuellen Nahostkonflikt, von der Lage der Menschen im Gazastreifen. Es werden 127 Fragen gestellt, auf die konzentrierte, sachkundige, manchmal etwas lakonische Antworten folgen: «Wie klein ist der Gazastreifen?», «Welcher israelische Ministerpräsident fragte eigentlich: ‹Wie viele Araber haben Sie bis jetzt vertrieben?›?», «Was steht in der Hamas-Charta von 1988?», «Bekommt man in Gaza Bier oder Wein?», «Was genau geschah am 7. Oktober?», «Wie denken Israelis ausserhalb der Regierung über den ‹Tag danach›?».
Bindung an das «Aberland»
Mein Dilemma als Israeli, der in der Schweiz lebt, betrifft diesen Versuch, auf jede Frage eine Antwort zu haben. Auf die Fragen, die sich mir diesbezüglich stellen, finde ich je länger, je weniger adäquate Antworten. Aus meiner Sicht der grauenhaften Ereignisse seit dem 7. Oktober erleben fast alle, die sich nicht nur aus den Medien informieren, sondern persönlich betroffen sind, eine tiefe Verzweiflung genau wegen der fehlenden Antworten, der offengebliebenen Fragen.
Der deutsche Autor Johannes Zang lebte lange in der Region, seine Kenntnisse sind fundiert. Er arbeitete als Freiwilliger in einem Kibbuz, lebte im von palästinensischer Bevölkerung dominierten Osten Jerusalems, arbeitete als Journalist für deutsche Zeitungen. Er kennt das Leben zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan, wo zwölf Millionen Menschen leben – fast die Hälfte davon Palästinenser:innen unter israelischer Besatzung –, aus eigener Erfahrung. Er schreibt im journalistischen Stil und verrät seine eigene Haltung nicht, und dennoch ist seine tiefe Bindung zu diesem Land unübersehbar.
Zang ist Musiktherapeut. Die therapeutische Eigenschaft sickert durch sein Schreiben. Zwar beschreibt er «nur» Fakten, und doch schafft er damit Bilder, die beim Lesen zu einem Mitgefühl mit den Menschen vor Ort führen. Durch den Aufbau des Buches wird nicht nur die grausame Dramatik, sondern auch die tragische Absurdität der nahöstlichen Verwirrung im Kopfkino der Leser:innen zu einem konkreten Narrativ des Horrors. Darin liegt aber auch eine Problematik: Der Nahe Osten krankt an verschiedenen, die gleichen historischen Ereignisse betreffenden Narrativen, die ununterbrochen aufeinanderprallen. Was für Israelis in der Staatsgründung 1948 eine Antwort auf das Trauma des Holocaust und die Erfüllung einer göttlichen Verheissung ist, bedeutet für Palästinenser:innen die «Nakba» – ein Begriff mit ähnlicher Bedeutung wie «Holocaust» –, der Verlust ihrer Souveränität in ihrem Land. Aber: Zangs Perspektive ist die eines zwar engagierten, jedoch objektiven Beobachters. Anders erleben es die Menschen, die im Land leben oder familiär und emotional eine biografische Bindung dorthin haben.
Es ist ein ewiges Dilemma: Ich weiss, es handelt sich um ein «Aberland», in dem jegliche Meinungsäusserung mit einem Aber erwidert wird. Nein, ich «abere» nicht. Ich bin dort geboren, aufgewachsen, lebte fast ein halbes Jahrhundert dort, war (und bin) in vielen Versuchen der Kommunikation und Interaktion zwischen Palästinenser:innen und Israelis involviert. Meine Bindung zum Land und zu den Menschen dort, ob Arabisch oder Hebräisch sprechend, ist eine andere als die eines Europäers, der versucht, eine durchaus faire, objektive und auch bei weitem nicht oberflächliche Sicht auf die Ereignisse zu vermitteln.
Er versucht, «eine Sicht», eher weniger «seine Sicht», zu vermitteln – doch Schicksalsbetroffene werden von solch objektiven Sichten kaum berührt. Zum Dilemma zählt auch, dass das Buch im Juli 2024 erschienen ist und sich seither Tiefe, Breite, Höhe und Intensität der Misere, der Ratlosigkeit, der Angst um die eigene Existenz und die Verzweiflung für Palästinenser:innen und Israelis in ihren Dimensionen mehrfach verstärkt haben. Und dass sich die versuchte Analyse der Entstehungs- und Verlaufsumstände der Problematik ebenfalls täglich wandelt, wendet, verändert.
«Mein Herzenswunsch»
Aber – mein persönliches Dilemma soll keinesfalls der Ausdruck einer Erwartung sein, dass sich nur persönlich Beteiligte zu dieser Thematik äussern sollen, sich darüber Meinungen bilden können. Je länger dieser Krieg dauert, desto unerträglicher seine Konsequenzen. Zerstörung von Häusern, von landwirtschaftlichen Flächen, Flucht und Tod sind in Palästina, dem Libanon und Israel fast so alltäglich wie in der Schweiz der Wetterbericht.
«Kein Land in Sicht?» ist leser:innenorientiert geschrieben, man kann das Buch, einmal begonnen, ob biografisch betroffen oder nicht, kaum weglegen. Zang schreibt: «Mein Herzenswunsch: dass die Leserin, der Leser erst einmal zuhört und nicht sofort zu einem ‹Ja, aber …› greift.» Gerade aus meinem betroffenen Blickwinkel kann ich allen, die sich einen schmalen – und trotzdem lehrreichen Pfad – durch das Nahostgestrüpp bahnen möchten, die Lektüre dieses Buches empfehlen. Ein Buch, das in relativ knappem Umfang einen überschaubaren Blick über jenen Konflikt verschafft, der wegen seiner hohen Explosivität auch die europäische Sicherheit bedrohen könnte.
