E-Mobilität: Schwedens «grüner Jesus» auf Talfahrt

Nr. 49 –

Der Batteriehersteller Northvolt wollte Europas Abhängigkeit von China beenden und versprach Schweden einen Wirtschaftsboom. Nun droht der Firma das Aus – und Tausende Arbeiter:innen stehen vor dem Nichts.

Fabrikgebäude von Northvolt
Rasch aus dem Boden gestampft und fast so schnell an den Rand des Ruins getrieben: Die «Traumfabrik» von Northvolt steht kurz vor der Pleite.

«Wir waren überglücklich», erinnert sich Andrii Usenko an das Gefühl im Frühling. Der 52-Jährige sitzt am Küchentisch in einer engen, aber gemütlich eingerichteten Wohnung. An der Wand ein Gemälde der Jungfrau Maria mit Jesuskind.

Im vergangenen Frühjahr sah es so aus, als hätte sich für ihn und seine Frau Nataliia Riabova endlich alles geklärt. Das ukrainische Paar floh nach Schweden, als ihrer Heimatstadt Saporischschja die russische Besetzung drohte. Doch das Leben in Stockholm war alles andere als einfach, die Suche nach anständiger Arbeit und einer bezahlbaren Wohnung schwierig.

Dann kam das Traumangebot der Gemeinde Skellefteå: eine Stelle in der Altenpflege für Nataliia Riabova und dazu eine billige Wohnung. Zwei Monate nach dem Umzug in den Norden fand auch Andrii Usenko Arbeit. Die Stelle bei Dongjin, einem südkoreanischen Zulieferer des Batterieproduzenten Northvolt, war auch für Usenko der Traumjob: «So wie ich es mir immer vorgestellt hatte, in Schweden zu arbeiten.»

So weit entsprechen die Erlebnisse des ukrainischen Paares der Erfolgsgeschichte, die Northvolt der nordschwedischen Gemeinde Skellefteå versprochen hatte. Nach jahrzehntelangem Bevölkerungsrückgang sollte die Kleinstadt endlich einen Aufschwung erleben. Der 2018 eingeleitete Fabrikbau schaffte Tausende Arbeitsplätze, sowohl direkt im entstehenden Werk, das Batterien für Elektromobilität herstellt, als auch indirekt bei Subunternehmen und den öffentlichen Diensten.

Ein schwedisches Tesla-Pendant

«Die meisten Menschen in Skellefteå waren begeistert», sagt Joakim Wallström von der Linkspartei, Vizevorsitzender des Gemeinderats. «Menschen empfanden Zuversicht.» Im Rathaus erzählt er stolz, wie die Gemeinde grosse Anstrengungen unternahm, um den Arbeitskräften den Zuzug zu erleichtern.

Eine Etage unter seinem Büro entstand das Welcome House Skellefteå, eine Info- und Anlaufstelle für alle Zuzüger:innen. Auf einer Weltkarte an der Wand markieren Dutzende bunte Fähnchen all die Orte, aus denen Skellefteås neuste Einwohner:innen zugezogen waren: etwa aus Brasilien, Australien oder Nigeria.

Die Karte hätte eine passende Illustration für die Vision sein können, die Northvolt-Gründer Peter Carlsson 2021 im schwedischen Radio präsentierte. Im beliebten, jährlich ausgestrahlten Sommerprogramm geben jeweils besonders prägende Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport in neunzigminütigen Monologen Einblick in ihr Wirken. Carlsson erklärte dort in selbstbewusstem, mit vielen Anglizismen gespicktem Corporate-Schwedisch, wie er dank seiner Erfahrung als Logistikchef bei Tesla und dank seiner Kontakte in der globalen Geschäftswelt die Milliardenfinanzierung für sein Start-up sicherte.

Der Impuls für die Gründung seiner Firma, erklärte Carlsson, sei aus einer Nahtoderfahrung erwachsen, als er in einem Skiurlaub in Kanada in eine Lawine geraten sei. Die Inspiration sei von Tesla-Chef Elon Musk gekommen. Solange man wie dieser von einer Vision geleitet sei und sich weder von etablierten Geschäftspraktiken noch von den Begrenzungen des lokalen Arbeitsmarkts einschränken lasse, sei kein Ziel zu ehrgeizig. Zweifler widerlegen zu können, sei dabei nur zusätzlicher Treibstoff.

Nicht nur in Skellefteå liess man sich von diesem Enthusiasmus anstecken: In Stockholm träumte man schon seit einigen Jahren von einem Boom «grüner Industrien». Die in Nordschweden ergiebige Wasserkraft soll dabei unter anderem eine neue, klimafreundliche Stahlindustrie ermöglichen. Northvolts Batterieproduktion, natürlich auch mit Ökostrom, war das perfekte Flaggschiff dieser Entwicklung. Auch auf europäischem Niveau sah man enormes Potenzial. Besonders die deutsche Autoindustrie erhoffte sich, mit schwedisch produzierten Batterien nicht nur grün, sondern auch von chinesischen Lieferanten unabhängig zu werden. BMW und Volkswagen investierten Hunderte Millionen US-Dollar in den Hoffnungsträger. Ihnen drohen nun Verluste, wie etwa auch einer Holding des Schweizer Unternehmers Peter Spuhler und, so Medienberichte, der Privatbank J. Safra Sarasin.

Schwarzarbeit und Unfälle

Drei Jahre später ist die Hoffnung verflogen, das Willkommenshaus leer. «Bist du von der gegenwärtigen Situation bei Northvolt betroffen?», fragt ein Plakat am Eingang. Ein QR-Code führt auf eine Hilfeseite, die, ohne die «Situation» näher zu definieren, den Ernst der Lage verdeutlicht. «Wenn du nichts hast, keine Unterkunft, keine Arbeit, kein Geld», lautet eines der Szenarien, zu denen Rat angeboten wird.

Seit Inbetriebnahme des Werks Ende 2021 blieb die Produktionsrate weit hinter Carlssons grossspurigen Plänen zurück; Lieferungen kamen in Verzug, Schulden häuften sich an. Im September wurden dann über tausend Mitarbeitende entlassen. Als Folge musste kürzlich auch der Materiallieferant Dongjin etwa ein Drittel seiner Mitarbeitenden entlassen, auch Andrii Usenko verlor seine Stelle. Für die Betroffenen war es ein Schock. Aber nicht alle in Skellefteå waren überrascht.

Portraitfoto von Pierre Pettersson
Pierre Pettersson, Gewerkschafter

«Keiner von uns, die guten Einblick in die Abläufe innerhalb von Northvolt hatten, ist im Geringsten verblüfft», sagt Pierre Pettersson, hauptamtlicher Vertreter der schwedischen Baugewerkschaft Byggnads bei Northvolt. «Im Gegenteil, wir haben nur gedacht: Wann bricht das alles zusammen?» Der Familienvater Pettersson ist in Skellefteå geboren und aufgewachsen, von Haus aus Gerüstbauer, im Herzen Punk. Er hält nichts von «Arschkriechen» und kann wohl zu denjenigen Zweiflern gezählt werden, die Carlsson in die Schranken weisen wollten.

Ein paar Tage nach dem Gespräch ist der Zusammenbruch Tatsache. Ende November reicht Northvolt bei einem Insolvenzgericht in den USA, wo das Unternehmen eine Niederlassung hat, einen Sanierungsantrag ein, in der Hoffnung, seine Milliardenschulden umstrukturieren und so eine Insolvenz noch verhindern zu können. Firmengründer Carlsson gibt seinen Rücktritt als CEO bekannt.

Die Gründe für die Krise sind komplex. Sowohl die schwächelnde Nachfrage nach den eher teuren Elektroautos von Northvolts deutschen Grosskunden als auch der Verdacht, dass China die schwedische Konkurrenz mit zielgerichteten Hindernissen beim Handel mit Grafit ausgebremst hat, stehen im Raum.

Gewerkschafter Pettersson zufolge gab es aber ohnehin gute Gründe, Carlssons Versprechen gegenüber skeptisch zu sein, als viele andere noch an sie glaubten. «Anfangs dachten alle, Carlsson sei der grüne Jesus, der Retter von Skellefteå.» Statt zu meckern, solle man doch dankbar sein, habe es damals geheissen. «Dabei haben die sich ja nicht aus Grossmut für diesen Standort entschieden, sondern weil wir hier über die Elektrizität verfügen, die so ein Betrieb braucht. Das ist ja keine Wohltätigkeit!»

Tatsächlich hatte die «Traumfabrik» ihre Schattenseiten: Es habe Schwarzarbeit und Sicherheitsmängel gegeben, die Leitung sei chaotisch und durch eine teils verächtliche Sicht auf Gewerkschaften geprägt gewesen. Seit Beginn des Fabrikbaus und der dann allmählich anlaufenden Batterieproduktion kam es zu mehreren tödlichen Arbeitsunfällen.

Auch in einem der für Northvolt-Angestellte errichteten Containerdörfer dauert es nicht lange, bis mehrere Mängel zur Sprache kommen. «Ich habe zwei Monate lang mit Elektrolyten gearbeitet – ohne Gasmaske und korrekte Schutzschuhe», sagt ein slowenischer Arbeiter, der vor seinem Wohncontainer raucht. Er wurde kürzlich entlassen und möchte anonym bleiben. Ihm zufolge hat der Arbeitsalltag in der Fabrik lange unter einer inkompetenten Leitung gelitten. Neue Mitarbeiter hätten alles selbst lernen müssen, niemand habe ihnen etwas beigebracht.

Die Gewerkschaftsarbeit ist laut Pettersson oft eine Herausforderung. Regelmässig habe er den häufig jungen, oft ausländischen Angestellten erklären müssen, was eine Gewerkschaft überhaupt sei. Nicht-EU-Bürger:innen, die mit einer Kündigung ihr Bleiberecht verloren hätten, seien oft besonders ängstlich gewesen, sich durch Kritik bemerkbar zu machen. Es erstaunt daher nicht, dass ein grosser Protest der Arbeiter:innenschaft bisher ausblieb.

Lieber Roboter als Menschen

Auch Carlssons Versicherung, die Northvolt-Philosophie werde sich immer um den Menschen drehen, scheint sich nicht bewahrheitet zu haben. «Man hat Menschen als Roboter betrachtet», sagt Gewerkschafter Pettersson. In der Startphase habe er die Führung etwa wiederholt dazu drängen müssen, den Bau mit genügend Toiletten auszustatten.

Vorwürfe, dass Sicherheit und Arbeitsbedingungen zurückgestellt worden seien, um die Produktion zu beschleunigen, hat Northvolt wiederholt zurückgewiesen. Auf Nachfrage der WOZ antwortet Kommunikationschef Matti Kataja, er sei «absolut zuversichtlich, dass wir alle möglichen Massnahmen ergreifen, um sichere Arbeit zu gewährleisten». Jeder Angestellte verfüge über die nötige Ausbildung und die erforderliche Schutzausrüstung.

Im Nachhinein scheinen sich viele der verlautbarten Probleme aber schon in der Musk’schen Unternehmensphilosophie abzuzeichnen, der Firmengründer Carlsson in seinem Radiobeitrag huldigte. In einer Anekdote aus seiner Tesla-Zeit beschreibt er etwa, wie Gabelstapler in Musks Fabrik aufhören mussten, beim Abbiegen aus Sicherheitsgründen zu hupen, weil «Elon» das Geräusch störte, nachdem er seinen Schreibtisch auf die Produktionsebene verlegt hatte. Dass die gesamte Belegschaft bei Northvolt auch mal am Wochenende einspringen und mithelfen musste, um eine Lieferfrist einzuhalten, ist für Carlsson wiederum nicht etwa Beispiel dafür, wie sich unrealistische Planung negativ auf Angestellte auswirken kann, sondern eine inspirierende Geschichte des Zusammenhalts.

Job finden oder ausreisen

Auch wenn Northvolt seine aggressive Zeitplanung mit dem Verweis auf den Klimawandel rechtfertigte, scheinen banalere Motive durch. Mit dem Selbstbild des mutigen Visionärs wird ein Unterfangen wie Northvolt leicht zu einem aufregenden Abfahrtslauf verklärt. Nicht zuletzt, wenn der erhoffte Preis darin besteht, ein europäischer Batteriemagnat nach Zuschnitt Musks zu werden, und alle Risiken mit einem höheren Zweck legitimiert werden können. Für Tausende, die sich auf das Abenteuer einliessen, beendet nun womöglich doch eher eine Lawine die Abfahrt.

Nireesh Chandra zum Beispiel zog wie Hunderte andere mit seiner Familie aus Indien nach Skellefteå, als seine Frau Arbeit bei Northvolt fand und er bei Dongjin unterkam. Zwar hat sie ihre Stelle noch – und folgt dem Rat ihres Nocharbeitgebers, nicht mit den Medien zu sprechen –, Nireesh Chandra aber wurde kürzlich entlassen. «Wir haben dieses Haus vor sechs Monaten gekauft, weil wir uns auf Northvolt verlassen hatten», erzählt er in der Küche des Reihenhauses, während sein Sohn im Zimmer nebenan Kinderfernsehen schaut. «Wir dachten, dass er hier zur Schule gehen würde», sagt Chandra.

Diese Pläne stehen jetzt auf der Kippe. Sollte Northvolt pleitegehen und auch Chandras Frau arbeitslos werden, müssten sie nach schwedischem Einwanderungsrecht innerhalb von neunzig Tagen einen neuen Job finden, um im Land bleiben zu dürfen. Die dabei geltende, zur Aussiebung nicht hochqualifizierter Zuwander:innen konzipierte Einkommensgrenze liegt bei umgerechnet etwa 2300 Franken im Monat. Die Jobauswahl wird so auf wenige gut bezahlte Stellen beschränkt.

Chandra sagt, die Stadtverwaltung habe geholfen, wo sie könne. Doch auch wenn er Aktionen wie eine kürzlich organisierte Jobmesse schätze, habe diese kaum Optionen geboten. Da die Familie durch das Haus an Skellefteå gebunden ist, wäre selbst ein Arbeitsplatz bei anderen «grünen Industrieprojekten» anderswo in Nordschweden keine Alternative. Ihr Haus zu verkaufen in einer Zeit, in der Tausende andere dabei sind, Skellefteå wieder zu verlassen, droht ein herbes Verlustgeschäft zu werden. «Viele von uns haben alles auf eine Karte gesetzt, jetzt fühlt es sich so an, als wären wir in eine Falle getappt», sagt Chandra.