Diesseits von Gut und Böse: Die Selbstsüchtigen

Nr. 2 –

«Kinder mit ’nem Willen kriegen was auf die Brillen», gehörte im letzten Jahrhundert zu den einfältigsten Versuchen, die Erziehung zum Gehorsam ein bisschen munter zu gestalten. Als ich letzte Woche im Leitartikel der NZZ den Zwischentitel «Der Bürger will, will, will» las, kam mir der dümmliche Spruch wieder in den Sinn.

Christina Neuhaus, Leiterin der NZZ-Inlandredaktion, zeigt sich dort tief besorgt: Statt Milizarbeit zu leisten, «kümmert sich die Bevölkerung heute lieber um ihr eigenes Wohlergehen», sie stimme «an der Urne immer mehr im eigenen Interesse ab». Neuhaus fragt sich, was mit den Schweizer:innen passiert sei, «die sich noch 2012 gegen eine zusätzliche Ferienwoche ausgesprochen» hätten.

Ja, es waren goldene Zeiten, als die Schweizer Bevölkerung noch zuverlässig gegen ihre eigenen Interessen abstimmte. Die Liste ist lang und begann früh: 1894 stimmten 80 Prozent der Männer gegen ein «Recht auf Arbeit», 1925 waren noch 58 Prozent gegen die Einrichtung von AHV und IV, 1976 sagten 78 Prozent Nein zur «Einführung der 40-Stunden-Woche», knapp 66 Prozent doppelten 1988 mit ihrer Verweigerung einer «Herabsetzung der Arbeitszeit» nach. Selbst «Tiefere Arzneimittelpreise» wollten 70 Prozent der Stimmbürger:innen 2001 lieber nicht – man glaubt es kaum.

Heute triumphiert der Eigennutz. Nur noch 39 Prozent der Erwerbstätigen verdienten mehr als ihre Väter, klagt Neuhaus. Den Abstieg illustriert sie mit einem Zitat von Bismarck: «Die erste Generation schafft Vermögen, die zweite verwaltet Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte, und die vierte verkommt vollends.»

Damit stellt sie klar, wer an der Misere schuld ist: die Studierten, und zwar vor allem jene der Sozial- und Geisteswissenschaften. Die wollen nicht mehr fünf Tage in der Woche arbeiten, sondern reduzieren lieber ihr Arbeitspensum und damit den Lohn, um an staatliche Vergünstigungen zu gelangen.

Anhand des naheliegenden Umkehrschlusses, dass dann doch sicher weder Neuhaus noch ihre Kolleg:innen studiert haben können – schon gar nicht Kunstgeschichte –, entlarvt Marko Kovic den ganzen Leitartikel übrigens als das, was er ist: «Bullshit-Populismus der NZZ». Aber diesen wunderbaren Text lesen Sie am besten selbst: markokovic.substack.com.