Ausstellung: Wie eine Sandburg am Strand
Worte und Werte im Clinch: Eine ausgezeichnete Ausstellung in Aarau vermisst das «Modell Neutralität» mit forensischer Phonetik, Pappmaché und einem unbekannten Lied von Polo Hofer.

Es klingt wie der trockene Husten eines Hundes: Hochkonzentriert lauschen ein Mann und eine Frau einem Tonschnipsel. Sie spielen es immer wieder ab, versuchen mittels komplexer Verfahren eine schlüssige Aussage herauszufiltern. Das Labor, in dem die beiden forensischen Phonetiker:innen arbeiten, wirkt wie die Kommandozentrale einer Weltraumstation, die Forschenden wie Figuren aus einem rätselhaften Science-Fiction-Film.
Nach den ersten phonetischen Aufräumarbeiten versammeln sich weitere Wissenschaftler:innen und zwei Journalist:innen unter der weissen Laborkuppel. Man erkennt etwa die renommierte Wirtschaftsjuristin Katharina Pistor. Die erweiterte Gruppe macht sich nun an die inhaltliche Analyse der rekonstruierten Tonstücke. Erst jetzt wird klar, worum es in den Aufnahmen geht: Die Finanzdienstleistungsbranche diskutiert darüber, wie sie ihre Reputation aufbessern könnte, versucht also die Quadratur des Kreises. Was wäre eine «positive Botschaft» der Offshorebanker an die Gesellschaft?
Die Diskussionen wurden von der Schweizer Künstlerin Gabriela Löffel an einer nicht öffentlichen Konferenz in schlechter Qualität aufgezeichnet. Dass aus dem verrauschten Rohmaterial zuerst mühsam herausgefiltert werden muss, was überhaupt gesagt wurde, legt die Spur zur Interpretation: Die Machenschaften der Finanzindustrie treten zwar immer wieder zutage, etwa nach Publikation der Pandora Papers. Doch man will diese Wahrheiten lieber ausblenden, sie begleiten uns im Alltag als Rauschen und unverständliches Gemurmel. Fachleute und Medien versuchen zwar mit vereinten Kräften zu übersetzen, werden aber kaum gehört.
Zerbröseln mit Mehrwert
Löffels gut einstündiges Video «Grammar of Calculated Ambiguity» ist eine brillante Arbeit in der neuen Sammelausstellung im Aargauer Kunsthaus mit dem trockenen Titel «Modell Neutralität». Und so wie Löffels Expert:innen die vermeintliche Neutralität der Wörter – «Offshore Banking», «Trusts», «Profit» – in ihre phonetischen und inhaltlichen Elemente auflösen, lassen die nach Aarau eingeladenen Künstler:innen das Konzept der Neutralität zerbröseln wie eine Sandburg in den Flutwellen am Strand.
Ein Zerbröseln mit Mehrwert: Bei Löffel etwa wachsen rund um den unverständlichen Hustenlaut ganze Kaskaden an schlauen Gedanken zu Kapitalismus, Steuerhinterziehung und Demokratie. Wissenschaft mutiert zur Kunst als kritischer Arbeit an der – mit vielen Störgeräuschen verwischten – Wirklichkeit.
Hat hier jemand «Neutralität» gesagt? Diese Frage stellt auch eine weitere gelungene Videoarbeit im Kunsthaus von Aarau. Denise Bertschi begibt sich in ihrem Video «Swiss Confidential» auf die Spur der Schweizer Gold-Connections mit dem Apartheidstaat Südafrika. In südafrikanischen Archiven hat Bertschi Dokumente gefunden, die Goldgeschäfte der Schweizerischen Bankgesellschaft (der heutigen UBS) mit dem rassistischen Unrechtsregime belegen. Im Briefverkehr ist die Rede von «höchst vertraulichen Goldangeboten» und von der Suche nach Mittelsmännern mit den «richtigen moralischen Qualifikationen». Parallel dazu wurde in Tessiner Raffinerien Rohgold aus den unter unmenschlichen Bedingungen betriebenen südafrikanischen Minen für den Handel aufbereitet. Bis heute ist die Schweiz eine wichtige Drehscheibe im Geschäft mit dem Edelmetall.
Highlight des Videos, das auch unterhaltsame Beiträge der Schweizer Filmwochenschau enthält, ist eine Aufnahme von Polo Hofers Lied «Wägem Gold» aus einer im Schweizerischen Sozialarchiv aufbewahrten Sendung von Radio Lora. «In Züri a de Börse ischs ne völlig gliich / Was z Kapstadt louft zwüsche Arm o Riich» – «Herr und Frau Mandela göi üs wenig ah / Mer sii wiit weg vo dem Südafrika», sang Polo National 1987. Der beissend getextete Song ist eine kaum bekannte Variante von Hofers Hit «Wägem Gäld». Und man fragt sich unvermittelt, wohin die Machtkritik bei den heute populären Mundartbands versickert. Was reimt sich auf Glencore?
Das Geschlecht des Schritts
Die Schweiz kommt in diesem «Modell Neutralität» naturgemäss oft vor. Am raumgreifendsten in einer wuchernden Installation von Thomas Hirschhorn: Seine «Wirtschaftslandschaft Davos» aus dem Jahr 2001, mit Pappmaché, Papier, Klebebändern, Märklin-Eisenbahn, Thomas Mann und Plastiksoldaten, zeigt Davos als Wef-Alpenfestung «in schönster Touristenminiatur» (Hirschhorn), aber auch als Dokumentationszentrum. Dazu gehört ein kleines Kino mit Klappstühlen, in dem Rolf Lyssys Film «Die Konfrontation» über das Attentat auf Wilhelm Gustloff, den NSDAP-Auslandsvertreter in der Schweiz, 1936 in Davos in Endlosschlaufe läuft.
Die gern gelobten «Guten Dienste» der Schweiz als Verhandlungsort sind präsent in Gestalt eines von Mîrkan Deniz erstellten Replikats des Tisches, an dem 1923 in Lausanne Kurdistan zwischen der Türkei, dem Irak, dem Iran und Syrien aufgeteilt wurde, mit bis heute verheerenden Folgen für die Kurd:innen. Kim da Motta wiederum bricht das Ausstellungsthema auf die Frage herunter, wie neutral eigentlich unsere Art zu gehen ist, und schickt die Besucher:innen aufs Laufband. Haben Gangarten ein Geschlecht? Im Raum nebenan kann man sich eine Videoanalyse der eigenen Schrittfolge ansehen. Und dabei über die Frage nachdenken, ob die neutrale Schweiz nicht als allererstes Land ein drittes Geschlecht hätte einführen müssen.
«Modell Neutralität» in: Aarau, Kunsthaus. Noch bis am 11. Mai 2025. www.aargauerkunsthaus.ch