Die Welt dreht sich: Was für ein Meisterwerk!

Nr. 37 –

Rebecca Gisler sortiert nach dem Regen die Gedanken

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Die Monate August und September sind in Frankreich vor allem durch ein kulturelles Ereignis geprägt: die «rentrée littéraire». Die literarische Herbstsaison hat Ende August begonnen, und seither läuft das Rennen um die grossen Literaturpreise: Prix Goncourt, Prix Médicis, Prix Renaudot und, und, und. Von August bis Oktober 2025 werden 484 Romane erscheinen – 25 mehr als 2024. Darunter sind 344 Romane in französischer Sprache, 73 Debütromane und 140 Übersetzungen. Die Fülle an Werbestrategien der Verlage und Buchbesprechungen ist überwältigend. Es scheint unmöglich, auch nur einen Teil dieser Bücher lesen zu können.

Ich bahne mir einen Weg – wenigstens durch einige Artikel zu den Neuerscheinungen –, und dabei sticht mir immer wieder ein Wort ins Auge: «chef-d’œuvre». Da ich in den vergangenen Tagen gefühlt 484 Mal über das Wort «chef-d’œuvre» gestolpert bin, habe ich mich zunehmend gefragt, was eigentlich ein sogenanntes Meisterwerk ausmacht, und ich war überzeugt davon, dass dies ein gutes Thema für eine Kolumne sein würde. Ich fange an, die Klischees aufzuschreiben: Ein Meisterwerk zu schaffen, bedeutet, sich selbst in der eigenen Kunst zu übertreffen? An die Grenze des eigenen Könnens zu gelangen? Einen Text zu schreiben, der wie ein kleines Wunder entsteht – vollkommen überraschend? Einen, nach dem man zufrieden sterben könnte? Angeblich soll man es spüren, wenn das Meisterwerk da ist. Marcel Proust hat es anscheinend gewusst, als es das Richtige war.

Bevor ich aber überhaupt dazu komme, mit meinem Gedankengang zu brillieren, wie es für ein solches Thema adäquat wäre, beginnt es draussen zu regnen. Zuerst ist es ein normaler Regen. Doch schon nach kurzer Zeit kommt ein stürmischer, lauter Wind dazu. Der Regen wird immer stärker, und im Handumdrehen handelt es sich um einen brennenden Regensturm, mit dem niemand gerechnet hat. Da der Wind so stark bläst, wird der nun eher senkrecht verlaufende Regen zur Seite gedrückt, und der Niederschlag kippt in eine beinahe horizontale Bahn. Es regnet nicht mehr, es schiesst Regentropfen. Die Tropfen peitschen gegen alles, was sich ihnen in den Weg stellt: Bäume, Hausmauern, Fensterscheiben. In dieser Ausnahmesituation muss ich das Thema Meisterwerk kurz beiseitelegen, um rechtzeitig alle Fensterläden zu schliessen. Der Balkontisch und die Stühle sind bereits umgekippt, leere Blumentöpfe vom Balkon geweht. Sogar die Pflanzen der Gärtnerei nebenan wurden vom Sturm hinweggefegt.

Danach setze ich mich aufs Sofa, um den Sturm, mit einer gewissen Vorsicht, zu geniessen. Es könnte sein, dass der Baum vor dem Fenster auf einmal umkippt – doch zum Glück werden nur seine Blätter vom Regen durchlöchert. Je nach Lichteinfall sehen sie jetzt aus wie weiss gepunktete Fliegenpilze. Zufälligerweise liegt ein Buch von André Dhôtel über Pilze auf unserem Sofa («Le vrai mystère des champignons»). Ich schlage es auf und stosse auf diesen Satz: «Ce qu’il est intéressant d’écrire, c’est le contraire d’un chef-d’œuvre» (Was zu schreiben interessant ist, ist das Gegenteil eines Meisterwerks). Dieser Satz gefällt mir. Der Sturm legt sich. Ich gehe zurück an meinen Schreibtisch und sortiere meine Gedanken neu, um das Thema von der anderen Seite her zu denken: Was ist eigentlich das Gegenteil eines Meisterwerks?

Rebecca Gisler ist Autorin und denkt darüber nach, wie ihr nächstes Meisterwerk aussehen sollte.