Dokumentarfilm: Torjubel mit den Rolling Stones

Den Satz «Sie waren ein Held meiner Kindheit» spricht man nicht so leicht aus, und auch der Regisseur Alfred Behrens hat ihn erst einmal gesagt – im vorigen Jahr. Der Mann, dem er galt, heisst Werner Erb und war in der BRD der fünfziger Jahre ein Fussballstar, dem aber ein Einsatz als Internationaler verwehrt blieb. Jetzt ist der Held von einst wieder ein Held – wenigstens in der Dokumentation «Das Spiel ohne Ball».

Werner Erb stürmte für Altona 93, der Erste von drei Fussballklubs, dem Behrens seine Zuneigung schenkte. Der heutige Viertligist aus Hamburg sowie seine anderen beiden Lieblingsvereine – der FC Chelsea London und Hertha BSC Berlin – sind nun quasi Figuren des Films «Das Spiel ohne Ball» geworden. In London arbeitete Behrens einst für die BBC, in Berlin spielte er selbst Fussball – in der Akademikertruppe «Rixdorfer Balltreter», wo unter anderem der jetzige deutsche Innenminister Otto Schily mitkick­te, als der noch Anwalt der RAF war.

Der Autor nutzt das Genre Dokumentation für eine autobiografische Erzählung – mindestens so viel gemein wie mit einer Sportdoku hat sein Film mit Büchern wie «Fever Pitch» (Hornby) oder «Das Tor zur Welt» (Theweleit). «Das Spiel ohne Ball» ist eine Art Filmbrief, in dem Behrens seinem früh verstorbenen Bruder Arno erzählt, wie sich der Fussball zwischen den fünfziger Jahren und dem 21. Jahrhundert verändert hat.

Auch mit der Bildsprache hebt Behrens sich von einer klassischen Dokumentation ab. Um die enge Beziehung zu illustrieren, die Fans einst zu ihren um die Ecke lebenden Helden hatten, stellt er mit einer Kamerafahrt von einem Hochhausdach aus den Fussweg Werner Erbs von Behrens’ Elternhaus zum ­Stadion nach – wenn Alfred und Arno draussen kickten, schlenderte er auf dem Weg zum Training oft an ihnen vorbei.

Im TV-Studio produzierter Fussball

In London musste Behrens improvisieren: Zweimal versucht er eine Drehgenehmigung fürs Stadion an der Stamford Bridge zu bekommen – vergeblich. Also diskutiert er mit einem Zimmermädchen des Hotels, das dem Chelsea-Stadion angegliedert ist, über Ticketpreise. Die Frau ist ausgerechnet Fan des Rivalen Arsenal – und zahlt dort 45 Pfund für eine Karte.
Auch beim Blick auf ein Bundesligaspiel in Berlin wählt er eine ungewöhnliche Perspektive: Behrens nimmt im Übertragungswagen einen Liveregisseur beim Kommandieren seiner Kameraleute ins Visier. Hier werden die Bilder geschaffen, die von einer Bundesligapartie im Gedächtnis bleiben. Diese Szenen erinnern an Behrens’ Buch «Die Fernseh-Liga», in dem er bereits 1974 das satirische Szenario einer virtuellen Fussballzukunft entworfen hatte, in der Spiele nicht mehr im Stadion stattfinden, sondern im Studio produziert werden.

Wesentlich geprägt wird die Ästhetik des Films von Ausschnitten aus dem EM-Viertelfinalhinspiel England – Deutschland von 1972. Die Partie war nicht nur der bisherige kreative Höhepunkt deutschen Auswahlfussballs, sondern auch im doppelten Sinn ein Wendepunkt: Kicker avancierten zu Popikonen und Identifikationsfiguren für Intellektuelle, und gleichzeitig verlor der Fussball seine Unschuld, weil die Industriealisierung des Sports ihren Anfang nahm. Drei Schlüsselfiguren dieser Entwicklung, die heute in zahlreichen Funktionen für Vereine, Verbände, Fernsehsender und Rechtehändler die Strippen ziehen, standen auf dem Platz: Beckenbauer, Hoeness, Netzer.

Die Popkultur jenseits des Fussballs streift der Autor mit Stücken von Keith Jarrett oder Franz Ferdinand. Musik ist wichtig für «Das Spiel ohne Ball» – unter anderem, weil ein Freund Behrens einst beigebracht hat, beim Fussball im Fernsehen den Ton leise zu drehen und stattdessen die Rolling Stones und Jimi Hendrix laut aufzudrehen. Deshalb erklingt hier zu Gerd Müllers Torjubel nach dem 3:1 in Wembley «Jumpin’ Jack Flash» – und es passt bestens.

Das Spiel ohne Ball. Regie: Alfred Behrens. Deutschland 2004