Leila Khaled brachte die Welt dazu, von Palästina zu sprechen: Es ist Zeit für die Unabhängigkeit
Am 1. Mai [2001] wird Leila Khaled als Rednerin in Zürich sein. Bekannt geworden als Flugzeugpiratin vor dreissig Jahren, ist sie heute eine wichtige Stimme der palästinensischen Linken. In Jordanien sprach sie mit der WoZ über den palästinensischen Volksaufstand, die Intifada.
Was sind die Ursachen der neuen Intifada?
Ich glaube, diese Intifada ist die Korrektur einer bestimmten Tendenz, die sich im palästinensischen Kampf gebildet hat. Dieser Kampf reicht zurück bis an den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Die neue Intifada folgte auf zahlreiche frühere Aufstände und Abschnitte des bewaffneten Widerstandes; und auf die Vereinbarungen von Oslo und die darauf folgenden Verträge. Die Menschen glaubten, sie könnten durch Verhandlungen zu ihrem Recht kommen: dem Recht auf Rückkehr, Selbstbestimmung und einen unabhängigen palästinensischen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt.
Doch unser Volk realisierte, dass die Oslo-Abkommen nicht einmal minimale Rechte zugestanden. Die Menschen merkten, dass die Besetzung mit der Einsetzung der Palästinensischen Nationalen Behörden (PNA) und den israelischen Truppenverschiebungen nur eine neue Form annahm. Die Besatzungsbehörden wenden nach wie vor die gleichen Mittel an: Verhaftungen, Häuserzerstörungen, Landenteignungen, Ausbau der Siedlungen, Kontrolle der Grenzen. Die Menschen können sich nicht frei bewegen. Belagerungen und Abriegelungen hindern sie daran, zur Schule oder zur Arbeit zu gehen. Die wirtschaftliche Lage hat sich verschlimmert. Dazu kommt, dass die Arbeitsweise der PNA keine Verbesserung der Situation bewirkte.
Dies sind die Gründe für die jetzige Intifada. Wenn eine Regelung nicht die Wurzeln des Konflikts angeht, wird der Konflikt weitergehen. Als Intifada oder in anderer Form.
Wie lässt sich diese Intifada vergleichen mit der Intifada, die 1987 begann?
Die Intifada von 1987 war die Antwort auf die Besetzung und die Politik der Besetzer. Sie war auch eine Antwort auf den ab 1982 unternommenen Versuch, der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO ihren Status als einzige legitime Vertreterin des Palästinensischen Volkes zu nehmen. Mit ihren Parolen stand die Intifada für Freiheit und Unabhängigkeit. Doch die Umstände waren diesen Zielen nicht förderlich.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem zweiten Golfkrieg konnte Israel mit Unterstützung der USA die Madrider (Verhandlungs-)Intiative beginnen. Hoffnungslosigkeit hatte sich unter den PalästinenserInnen breit gemacht. Trotz allen Kämpfen hatten sie ihre Ziele nicht erreicht. Als die Führung auf die Verhandlungslinie einschwenkte, hofften viele Menschen, dass sie so ihre Rechte wieder erlangen könnten. Doch nach zehn Jahren Verhandlungen und acht Jahre nach Einsetzung der PNA hat sich nicht viel geändert. Kurz gesagt: Israel besetzt weiterhin unser Land und hat es mitsamt seinen BewohnerInnen in 64 verschiedene Einheiten gespaltet. Die zweite Intifada zielt also darauf, die Resultate der Osloer Abkommen zu korrigieren.
Hat sich die israelische Taktik verändert?
Israel hat nicht die Absicht, eine Regelung zu erreichen, die uns unsere Rechte zugesteht. Jede israelische Regierung seit 1979 sagte Nein zu einem palästinensischen Staat, Nein zur Rückkehr der Flüchtlinge, Nein zu Jerusalem als palästinensischer Hauptstadt; ob im Camp-David-Vertrag mit Ägypten, den Osloer Abkommen mit der PLO oder dem Wadi-Araba-Vertrag mit Jordanien.
Der Kern der Palästinafrage liegt im Land (die Souveränität) und in den Menschen (die Rückkehr der Flüchtlinge). Beide Intifadas wurzelten darin; und Israel weigert sich, dies anzugehen. Israel plant, seine Sicherheitsstrategie und Frieden für sich selbst gewaltsam zu verwirklichen, ohne uns Land oder das Recht auf Rückkehr zuzugestehen.
Umgesetzt bedeutet das ein Massaker an den PalästinenserInnen in Etappen. Die Israelis töten ganz direkt, aber auch indirekt durch die Belagerungen, die die Wirtschaft abwürgen und Hilfe blockieren. Die Zahl der politischen Morde steigt, ebenso die ungehemmten Aggressionen gegen das ganze Volk. Unter den über 400 getöteten PalästinenserInnen waren einhundert noch nicht 18-jährige Kinder. Viele von ihnen haben nicht einmal Steine geworfen. Die Israelis nehmen immer mehr Leute in Gefangenschaft. Ausserdem führen sie ihre Politik weiter, Bäume zu entwurzeln und Land platt zu walzen, um die landwirtschaftliche Nutzung zu verunmöglichen.
Israel versucht, die Menschen zu terrorisieren, damit sie sich unterwerfen. Es versucht, an den Uno-Resolutionen vorbei neue Tatsachen zu schaffen und die eigenen Pläne gewaltsam durchzusetzen. Israel will die Inkraftsetzung der Oslo-Abkommen und der Oslo nachfolgenden Verträge vermeiden.
Scharon mit seiner persönlichen terroristischen Geschichte, von den Massakern von Qiby bis zu Sabra und Schatila, wird diese Linie der ausschliesslich gewaltsamen Umsetzung von Politik weiterführen. Die neue US-Regierung unterstützt ihn dabei. Sie legte im Uno-Sicherheitsrat ihr Veto ein gegen eine Überwachungstruppe. Das bedeutet für Israel grünes Licht, um mit der aggressiven Politik weiterzufahren, obwohl aus Europa heftige Kritik daran kommt.
Wie haben sich die palästinensischen Kampfformen verändert?
Charakteristisch für die erste Intifada waren die Massen auf der Strasse, die sich den israelischen Soldaten direkt entgegenstellten. Heute sind die israelischen Truppen nicht mehr in den palästinensischen Städten drin, deshalb verfügen sie über bessere Positionen für ihre Angriffe. Das führte dazu, dass es so viele palästinensische Opfer gab und viel weniger israelische. Unsere Leute müssen deshalb andere Taktiken anwenden. Sie werfen nicht nur Steine, sie benützen auch Waffen, um sich zu verteidigen. Sie eigneten sich neue Methoden an, um der israelischen Belagerung von Flüchtlingslagern und Städten etwas entgegenzusetzen. Am 8. März, dem Tag der Frau, zogen Frauen in einer friedlichen Demonstration zu den Blockaden rund um die Städte, um sie niederzureissen. Anfang April, am Tag des palästinensischen Kindes, gab es Demos von Kindern, die ein Leben in Frieden forderten.
Welche Haltung nimmt die Fatah-Bewegung in der Intifada ein?
Die Fatah ist einbezogen in die Verteidigung des Volkes gegen die israelische Aggression, wie die anderen palästinensischen Gruppen auch. Wir hören Anführer der Fatah nach Stärkung der Intifada rufen, damit sie ihre Ziele erreicht. Andererseits führen die PNA, worin die Fatah die wichtigste Komponente ist, die Verhandlungen mit Israel parallel zur Intifada weiter. Das verwirrt die Menschen.
Wir müssen verkünden, dass wir diejenigen sind, die Frieden und Sicherheit brauchen; nicht die Israelis, die Aggressoren gegen unser Volk und die PNA sind. Wir müssen die Ziele und Mittel der Intifada deutlicher definieren und dadurch die Mobilisierung verstärken. Palästinensisch, arabisch und international.
Was hat die Intifada bisher bewirkt?
Erstens brachte sie Einheit unter alle Kräfte des Volkes, einschliesslich der verschiedenen Widerstandsorganisationen, Gewerkschaften, nichtstaatlichen Organisationen (NGO) und dem Apparat der PNA. Zweitens engagieren sich die PalästinenserInnen innerhalb Israels direkt zur Unterstützung der Intifada. Denn sie betrachten sich als PalästinenserInnen und nicht als israelische Minderheit. Drittens sind die PalästinenserInnen ausserhalb Palästinas geeint in der Unterstützung der Intifada. Das Recht auf Rückkehr hat zunehmend an Dringlichkeit für die Menschen innerhalb und ausserhalb Palästinas gewonnen. Viertens hat die Intifada die Massen der arabischen Welt tief beeinflusst. Fünftens erreichte die Palästinafrage neue internationale Beachtung.
Welche Prioritäten setzt gegenwärtig Ihre Organisation, die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP)?
Wir müssen die Einheit des Kampfes unter den verschiedenen Kräften innerhalb der PLO organisieren. Auf demokratischer Basis müssen alle Parteien daran teilnehmen.
Es ist an der Zeit, die palästinensische Unabhängigkeitserklärung in Kraft zu setzen. Die Unabhängigkeitserklärung wurde 1988 vom Palästinensischen Nationalrat verabschiedet. Wir sollten an die Welt appellieren, ihre Einsetzung zu unterstützen. Die Unabhängigkeit bringt die Formierung einer Regierung mit sich, an der alle politischen Kräfte beteiligt sind. Das bedeutet die Institutionalisierung einer wahren Demokratie in der palästinensischen Gesellschaft als Basis zum Aufbau einer Zivilgesellschaft. Wir müssen auch die arabische Dimension fördern. Die arabischen Massen sind bereit, die Intifada zu unterstützen, aber die Regierungen versuchen, ihre Anstrengungen möglichst klein zu halten. Wir brauchen arabischen und internationalen Druck, um Sharons Regierung zu isolieren.
Warum sind in der neuen Intifada die Frauen weniger sichtbar als in der ersten? Ist das ein Rückschlag?
In der früheren Intifada waren die Frauen Teil einer Massenbewegung in den Strassen. Heute konzentrieren sie sich auf die interne Front. Ihre Rolle liegt vermehrt in der Zivilgesellschaft, das heisst in der Mobilisierung, in der Sorge für die Familien der Märtyrer, der Verletzten, der Gefangenen und der Menschen ohne Einkommen. Alle Frauenorganisationen koordinieren diese Bemühungen.
Die Frauen leisten wichtige Arbeit, indem sie die Kindergärten und Schulen offen halten. Sich um die Kinder zu kümmern, ist heute wirklich zentral – sie in die Schule zu schicken, ihr Leben trotz der israelischen Aggression so normal wie möglich zu machen, ihnen dabei zu helfen, die Folgen der Aggression zu meistern. Sie können sich die Wirkung auf die Kinder vorstellen, wenn im Klassenzimmer plötzlich ein Pult leer bleibt, weil ein Klassenkamerad getötet wurde!
Frauen beteiligen sich an Demonstrationen und Beerdigungen von Märtyrern, aber sie spielen keine Hauptrolle in den Konfrontationen, denn die israelischen Truppen sind ja ausserhalb der Städte. Für Frauen ist es schwieriger, ihr Wohnviertel zu verlassen und dorthin zu gelangen. Doch sie beteiligen sich an den Protesten gegen Landenteignungen und Häuserzerstörungen. Sie führen den sozialen Kampf um ihre Rechte weiter. Workshops, Kurse und Seminare zur Diskusson der Anliegen der Frauen finden weiterhin statt.
Ich sehe das nicht als Rückschlag, denn Frauen erfüllen absolut vitale Aufgaben. Frauengruppen motivieren andere Frauen zur Beteiligung, indem sie alternative Formen zur Konfrontation mit der Besatzung anbieten.
Übersetzung aus dem Englischen: Armin Köhli
Leila Khaled – ein Leben ohne Flugangst
Leila Khaled wurde am 9. April 1944 in Haifa in Palästina geboren. Als sie erst vier Jahre alt war, musste ihre Familie wegen der Gewalt der zionistischen Kräfte gegen PalästinenserInnen in den Südlibanon fliehen.
Heute lebt Khaled in der jordanischen Hauptstadt Amman. Sie heiratete den palästinensischen Arzt und Autor Faez Rasheed. Sie haben zwei Söhne. Badr, der ältere, studiert Informationstechnologie. Beshar geht in die zehnte Klasse. A ls Leila Khaled in Tyros als sechstes von zwölf Kindern aufwuchs, brachten sie die nationalistischen Aktivitäten ihrer älteren Geschwister dazu, sich für Politik zu interessieren. Als Neunjährige lief sie, Seite an Seite mit ihrem Lehrer, an der Spitze einer Demonstration anlässlich des fünften Jahrestags der Gründung Israels und der Enteignung der PalästinenserInnen mit.
In dieser Zeit löste Gamal Abd el-Nassers ägyptische Revolution Enthusiasmus in der ganzen arabischen Welt aus und natürlich besonders in der Jugend. Die studentischen Aktivitäten an der Amerikanischen Universität in Beirut wirkten als Katalysator für eine Massenbewegung und vielfältige nationalistische Aktionen. Als sich die Polarisierung zwischen der proamerikanischen libanesischen Regierung und der Arabischen Nationalbewegung (ANM) verstärkte, begann 1958 ein Bürgerkrieg. Khaleds erste konkrete politische Aufgabe war die Unterstützung der nationalistischen Kräfte in Tyros, als sie von der libanesischen Armee angegriffen wurden. 1959 wurde Khaled von der ANM als Mitglied aufgenommen; in einer Zeit, als Frauen um das Recht kämpfen mussten, sich an der Politik zu beteiligen.
1967, als sich die palästinensische Sektion der ANM zur Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) umwandelte, trat sie dieser Organisation bei. Seither blieb sie Mitglied der PFLP. Sie gehörte zum Zentralkomitee und beteiligte sich an allen Arten der Arbeit, vom bewaffneten Kampf bis zur politischen Mobilisierung, von Basisarbeit bis zu Führungsaufgaben.
Seit 1979 ist sie Mitglied des Palästinensischen Nationalrates, dem «Parlament» der PLO. Als die PFLP Ende der sechziger Jahre eine Reihe von internationalen bewaffneten Aktionen wie Flugzeugentführungen startete, um der palästinensischen Sache zu Beachtung zu verhelfen, war Leila Khaled dabei eine prominente Kämpferin. Sie setzte ihre Kraft immer auch zur Förderung der Rolle der palästinensischen Frauen ein. Von 1974 bis 1985 war sie im Exekutivkomitee der General Union of Palestinian Women, heute ist sie im Verwaltungsrat dieses Dachverbandes. Als sie in den achtziger Jahren in Syrien lebte, war sie Präsidentin der Palestinian Women’s Organization.