Nicht unser Krieg

Le Monde diplomatique –

Warum so viele afrikanische Staaten Russland nicht verurteilen wollen

Nigers Präsident Bazoum spricht bei der UNO in New York, September 2022
Nigers Präsident Bazoum in New York, September 2022 Foto: JULIA NIKHINSON/picture alliance/ap

Am 2. März 2022 stimmte die UN-Generalversammlung über eine Resolution ab, die den russischen Angriff auf die Ukraine verurteilte. 141 von 193 Mitgliedstaaten stimmten zu, 35 enthielten sich, darunter 17 afrikanische Staaten.

Dieses Ergebnis wurde von manchen westlichen Regierungen mit Verblüffung und Unverständnis aufgenommen. In Erwartung weiterer UN-Resolutionen zu diesem Krieg versuchten sie daraufhin, die Zögerlichen mit allen möglichen Mitteln umzustimmen.

Man habe ihn nicht direkt unter Druck gesetzt, sagte der senegalesische Präsident Macky Sall einige Monate später gegenüber Le Monde betont zurückhaltend: „Befreundete Partner aus der Europäischen Union und den USA haben aber Bitten an uns herangetragen – wie an viele andere Länder, um ihnen zu bedeuten, dass sie in einer bestimmten Weise abstimmen sollen.“1

Die Afrikanische Union machte ihrerseits weder eine Ansage noch berieten die 54 Mitgliedstaaten über eine gemeinsame Position – und das ist auch künftig nicht zu erwarten. Keine Region der Welt ist in diesem Konflikt so gespalten wie Afrika.

Derweil folgten im Westen auf die Sprachlosigkeit die üblichen einfachen Erklärungen – mit dem Tenor, Russland habe eben viele afrikanische Regierungen in der Hand. Ein ehemaliger Berater für Zentralafrika bei der International Crisis Group, Thierry Vircoulon, sagt dazu, dass es dabei weniger um wirtschaftliche Verbindungen als um Sicherheitspolitik gehe: „Zwischen 2016 und 2020 haben die Länder südlich der Sahara 30 Prozent ihrer Waffen aus Russland bezogen.“

Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss der russischen Söldnertruppe Wagner auf fragile Regime wie Mali und die Zentralafrikanische Republik.2 „Dass der Kreml so stark in die Sicherheit von Staaten involviert ist, garantiert ihm einen privilegierten Zugang zu den Machtzirkeln“, so Vircoulon, „Er kann sie sogar zu seinen Vasallen machen wie im Fall der Zentralafrikanischen Republik.“3

Hinter vorgehaltener Hand geben afrikanische Diplomaten selbst zu, dass ihre Regierungen sich genau überlegen, ob sie Moskau verärgern, das einen gewissen Einfluss auf die innerafrikanischen Beziehungen hat – unter anderem durch seinen Verbündeten Südafrika, das wie Russland zur Gruppe der Brics-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) gehört.

Und schließlich nehme ein westlicher Staat wie Frankreich auch Einfluss, indem es Saudi-Arabien und Ägypten, die sich bekanntlich wenig um Menschenrechte scheren, im großen Stil Rüstungsgüter und Kampfflugzeuge verkauft. Der beninische Politologe Gilles Yabi meint, die Verwunderung europäischer Kommentatoren zeige doch „vor allem, dass sie Afrika nicht zutrauen, das Weltgeschehen eigenständig zu beurteilen“.4

Allerdings hinkt der zuweilen bemühte Vergleich mit der Bewegung der Blockfreien in Bezug auf die unterschiedlichen, unklaren oder neutralen Haltungen afrikanischer Regierungen. Denn während es im Kalten Krieg darum ging, sich von zwei imperialistischen Machtblöcken zu distanzieren, geht es heute um die Position gegenüber einem gravierenden Verstoß gegen die UN-Charta (Grenzänderung mit gewaltsamen Mitteln), den ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats begangen hat.

Für den Wunsch, sich abzugrenzen und auf Unabhängigkeit zu pochen, gibt es allerdings eine plausible Erklärung: „Seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir in einer Welt gelebt, in der hauptsächlich die Westmächte in jeder Hinsicht die Marschroute vorgegeben haben“, konstatiert Gilles Yabi. „Die Haltung zu Russland erklärt sich zum Teil dadurch, dass man sich nicht von einer einzigen Supermacht, vor allem nicht von den USA, oder von den europäischen Ländern mit ihrer Kolonialvergangenheit abhängig machen will.“

Außerdem ist in den Führungspositionen mittlerweile eine Generation nachgerückt, für die die aus der Kolonialzeit ererbten Verbindungen ihre Bedeutung verloren haben. Sie befreien sich von den alten Komplexen, meint Bakary Sambe, Direktor des Timbuktu Institute/African Center for Peace Studies: „Wir haben es heute mit einem Afrika zu tun, das versucht, in den internationalen Beziehungen stärker seine eigenen Interessen zu vertreten.“

Für den Westen ist das ungewohnt und ziemlich unbequem. Befremdlich naiv war beispielsweise der Auftritt von Chrysoula Zacharopoulou, Staatssekretärin im französischen Außenministerium, am 24. Oktober 2022 in Dakar. So mahnte sie im Beisein mehrerer afrikanischer Staatschefs, Afrika müsse sich angesichts des russischen Angriffs mit den Europäern solidarisch zeigen, weil dieser Angriff eine „existenzielle Bedrohung für die Stabilität und Integrität unseres Kontinents“ sei.5

Solche Äußerungen, die das bei vielen afrikanischen Regierungen tief sitzende Gefühl der Ungerechtigkeit übergehen, zeigen, wie offenkundig „befangen“6 der Westen ist, meint Comfort Ero, Präsidentin der International Crisis Group. Der fragwürdige Umgang mit dem Völkerrecht 2003 im Irak und 1999 im Kosovo kommt in diesem Kontext auch immer wieder zur Sprache.

Im September 2022 erinnerte Mohamed Bazoum, der Präsident von Niger, vor den Vereinten Nationen nachdrücklich an die verheerenden Folgen der Nato-Intervention 2011 in Libyen und den Vormarsch des Dschihadismus im Sahel, der ganze Länder destabilisiere. Er sei sehr besorgt angesichts der „großen Defizite“ bei der globalen Bekämpfung des Terrorismus.

Macky Sall forderte an gleicher Stelle im Namen der Afrikanischen Union, deren Vorsitz sein Land turnusmäßig innehatte, den Sicherheitsrat auf, „alle Bedrohungen für den Frieden und die internationale Sicherheit mit gleicher Elle zu messen – auch in Afrika“. Und Kenias Präsident William Ruto listete die Gefahren und Herausforderungen auf, mit denen der Kontinent zu kämpfen hat: „Klimawandel, Lebensmittelkrise, Terrorismus, Cyberkriminalität, bewaffnete Konflikte, die Coronapandemie.“ Er beklagte, dass der Multilateralismus nicht in der Lage sei, diesen Herausforderungen zu begegnen.

Die Afrikaner „sehen, wie widersprüchlich Europa handelt: Ukrainische Flüchtlinge werden bereitwillig aufgenommen, Asiaten, Araber und Afrikaner abgewiesen“, so Comfort Ero. „Die Ungleichbehandlung zeigt sich auch bei der Verteilung von Covid-19-Impfstoffen oder in finanziellen Fragen.“ Der Ton in den politischen Kommentaren wird gereizter. Für Afrika ist der Klimawandel wichtiger als der Krieg in der Ukraine“, spitzt es Gilles Yabi zu.

Die Nahrungsmittelkrise, die durch den Krieg in der Ukraine noch verschlimmert wurde, ruft in Afrika düstere Erinnerungen wach an Ereignisse, die sich zwar in weiter Ferne abspielten, aber Auswirkungen auf den ganzen Kontinent hatten. Man muss gar nicht bis in koloniale Zeiten oder zu den schädlichen Strukturanpassungsprogrammen der 1980er Jahre zurückgehen: Die während der Pandemie aufgetretenen Lieferkettenstörungen wiederholen sich jetzt bei der Getreideversorgung.

Der erste wichtige Schritt der Afrikanischen Union wird daher sein, in Moskau bei Wladimir Putin vorstellig zu werden und sich für ein Abkommen über den Seehandel im Schwarzen Meer starkzumachen.

„Für Afrika ist es an der Zeit, die Lehren aus dieser Krise zwischen Russland und der Ukraine zu ziehen“, meint der kongolesische Politikanalyst Cyr Makosso. „Afrika muss sich bei der Nahrungsmittelversorgung unabhängiger machen. Dafür müssen die subregionalen Ländergruppen ihre Bestände an Importgütern gemeinsam nutzen. Außerdem müssen traditionelle Düngemethoden aufgewertet und das heimische Saatgut und heimische Kulturen gefördert werden, nachdem sie zugunsten der Agrochemie lange vernachlässigt wurden.“7

Bei alledem ist das Gebaren der afrikanischen Regierungschefs nicht frei von Theatralik und Demagogie. Viele Staatsoberhäupter prangern das Afrika zugefügte geschehene Unrecht an und liefern ihre Länder gleichzeitig dem Raubbau durch multinationale Konzerne aus. Sie setzen ihre Unterschrift unter Verträge, mit denen die internationalen Finanzinstitutionen die Bevölkerung in die Armut stürzen und hofieren westliche Militärexperten und Sicherheitsfirmen.

Auch hat Afrika nicht immer solidarisch seine gemeinsamen Interessen vertreten. 2011 stimmten mehrere Staaten – allen voran Nigeria – für die berüchtigte Resolution 1973, mit der das militärische Eingreifen der Nato in Libyen genehmigt wurde, und ignorierten die Vermittlungsversuche der Afrikanischen Union.

Der senegalesische Politikwissenschaftler Aziz Salmone Fall, Gründer der Groupe de recherche et d’initiative pour la libération de l’Afrique (Grila), bedauert, dass die afrikanische Linke sich nicht stärker mit diesen internationalen Entwicklungen befasst, um das Projekt der „Abkopplung“ des afrikanischen Kontinents von der kapitalistischen Weltwirtschaft voranzubringen.

Derweil kam es zu etlichen diplomatischen Charmeoffensiven: Innerhalb weniger Wochen reisten der französische Präsident Emmanuel Macron, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, US-Außenminister Tony Blinken und der russische Außenminister Sergei Lawrow nach Afrika. In aller Eile wurde Mitte Dezember der zweite Afrika–USA-Gipfel auf die Beine gestellt. Dies zeigt, dass die Welt sich wieder verstärkt für Afrika interessiert.

Manche afrikanische Stimmen sehen für ihren Kontinent hier auch eine Chance, weiterzukommen und sich zu konsolidieren. „In diesem Kontext, der uns für dieses Mal tatsächlich Nutzen bringen kann“, glaubt Bakary Sambe, könne Afrika vom bloßen Anhängsel zu einem Gebiet werden, das „mit seinem Einfluss und Gewicht für die Balance der Macht auf der Weltbühne entscheidend wird“.

Immer häufiger wird gefordert, die internationalen Beziehungen neu auszutarieren und der Afrikanischen Union zum Beispiel einen ständigen Sitz im Kreis der G20 oder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu geben.

„Wenn der Rest der Welt und insbesondere Europa gerechte Beziehungen zu Afrika aufbauen wollen, ist dafür jetzt der richtige Zeitpunkt, erklärt die frühere senegalesische Premierministerin Aminata Touré. „Heute gibt es eine Riege respektabler potenzieller Partner. Das war vor 15 oder 20 Jahren noch nicht der Fall. Die Welt hat sich verändert, aber ich habe den Eindruck, dass die traditionellen Mächte das nicht oder nur sehr, sehr langsam realisieren. Es braucht einen Paradigmenwechsel.8

Augenscheinlich ist der Weg dahin aber noch sehr weit. Die meisten westlichen Staats- und Regierungschefs akzeptieren inzwischen zwar den Plan, den Sicherheitsrat zu erweitern. Nahezu geschlossen aber stimmten sie gegen die UN-Resolution für den „Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie für alle“, die am 14. Dezember 2022 mit 123 zu 50 (und einer Enthaltung) von der Generalversammlung angenommen wurde.

1Le Monde, 25. Oktober 2022.

2 Siehe Arnaud Dubien, „Kampfgenossen und Businesspartner“, LMd, Januar 2021.

3 Thierry Vircoulon, „La Russafrique: combien de votes?“, The Conversation, 13. März 2022.

4 Gilles Yabi, „Climate Change Is More Important for Africa than the War in Ukraine“, Institut Montaigne, Paris, 27. Oktober 2022.

5 Chrysoula Zacharopoulou, Staatssekretärin für Entwicklung, Frankophonie und internationale Partnerschaften in Dakar, 24. Oktober 2022.

6Le Monde, 20. September 2022.

7„Regards croisés européens et africains sur la guerre en Ukraine: entre choc quasi mortel, révolution stratégique et incertitudes“, Radio France Internationale, 23. April 2022.

8 World Policy Forum, Abu Dhabi, 10. Dezember 2022.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld