Provinzen des Kalifats
Der IS und seine Ableger in Afrika und Asien
Am 3. Januar bekannte sich der Islamische Staat (IS) – auch Daesch genannt – zu einem Bombenanschlag in der iranischen Stadt Kerman. Ziel des Angriffs, bei dem 103 Menschen getötet wurden, war eine Gedenkfeier für Qasem Soleimani, den iranischen Kommandeur der Al-Quds-Einheit der Islamischen Revolutionsgarden, der am 3. Januar 2020 von einer US-Drohne in Bagdad getötet worden war.
Soleimani war für die Auslandseinsätze der Pasdaran (Revolutionsgarden) in Syrien und im Irak zuständig und hatte an der Seite der syrischen Armee und der schiitischen Milizen im Irak den Kampf gegen bewaffnete sunnitische Gruppen koordiniert.
Der IS erklärte auf seinen Telegram-Kanälen, der Anschlag – der vierte in Iran seit 2017 – habe schiitischen „Abtrünnigen“ gegolten und sei zugleich ein Akt der Solidarität mit Muslimen, „insbesondere in Palästina“. Mit dieser Erklärung bezog sich die Terrororganisation auch auf die Massaker an der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen. Die Situation dort betrachtet der IS als keineswegs singulär, sondern nennt sie eine der zahlreichen „Wunden“ der muslimischen Welt.
Die Losung der IS-Gewaltkampagne gegen Schiiten lautet: „Und tötet sie, wo immer ihr sie findet.“ Sie erinnert daran, dass für den IS von Anfang an der Kampf gegen die „Abtrünnigen“ wichtiger war als der Kampf gegen „das zionistische Gebilde“.
Nach dem Tod des IS-Führers Abu al-Husain al-Husaini al-Qurashi, der am 3. August 2023 bei einem Gefecht mit der syrischen Rebellengruppe Hayat Tahrir asch-Scham (HTS) in der Region Idlib umgekommen war, ernannte die Organisation Abu Hafs al-Hashimi al-Qurashi zu ihrem sechsten Anführer und fünften „Kalifen“. Der Zuname Qurashi bezieht sich auf die Quraisch, den arabischen Stamm, der zur Zeit Mohammeds über Mekka herrschte und dem der Prophet selbst angehörte.
Mittlerweile ist die Bedrohung durch den IS in den Medien kein großes Thema mehr. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht mehr existent wäre. Im Dezember verhafteten türkische Sicherheitskräfte und Geheimdienste in neun Städten, darunter Istanbul und Ankara, insgesamt 32 Personen unter dem Verdacht, dem IS anzugehören und Anschläge auf Synagogen und Kirchen sowie auf die irakische Botschaft in Ankara geplant zu haben.
In Syrien haben sich Gruppen von Dschihadisten in die zentralsyrische Badia-Wüste geflüchtet. Von dort aus starten sie immer wieder Attacken gegen Beduinenstämme, mal mit Motorrädern, mal mit Pick-ups, auf denen schwere Maschinengewehre montiert sind. Im Frühjahr 2023 töteten IS-Kämpfer mehr als 150 Sammler von Sandtrüffeln, um deren wertvolle Pilzernte zu erbeuten. Nicht besser erging es Hirten, denen die Dschihadisten ihre Herden raubten.
Die Armee des Assad-Regimes wird ebenfalls regelmäßig von IS-Kämpfern angegriffen. Auch gegen die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) hat der IS im Nordosten Syriens 24 Attacken allein im Juni 2023 durchgeführt. Die Dschihadisten haben außerdem zahlreichen ihrer Kämpfer zur Flucht aus Gefängnissen in Syrien verholfen. Viele davon sind ausländische Staatsangehörige, deren Heimatländer sich weigern, sie wieder aufzunehmen.
Auch im Irak ist eine Rückkehr des IS zu verzeichnen. Das Land leidet seit der US-Invasion von 2003 unter der Instabilität seiner politischen Institutionen und den ständigen Spannungen zwischen den verschiedenen Konfessionsgruppen und Stammesgemeinschaften. Die schiitischen Milizen1, teilweise unterstützt und ausgebildet von iranischen Pasdaran, verfolgen ihre eigene Agenda. Und die beiden großen kurdischen Parteien der autonomen Regionalregierung Kurdistans – die KDP und die PUK – sind verfeindet und unterhalten ihre jeweils eigenen Peschmerga-Einheiten.
Diese innere Zersplitterung in Kombination mit der notorischen Korruption der Eliten machen es der Regierung in Bagdad unmöglich, die Islamisten wirksam zu bekämpfen. So kann der IS weiterhin einen Guerillakrieg niedriger Intensität führen, wobei er seine Angriffe vornehmlich auf Sicherheitskräfte, Zivilisten und Infrastruktur richtet, vor allem in der Region Kirkuk im Nordosten des Landes.2
Ohnehin findet der IS in Ländern, in denen alte Konflikte zwischen der Zentralregierung und marginalisierten Bevölkerungsteilen aufgebrochen sind, fruchtbaren Boden. In Ägypten hat er im nördlichen Sinai, wo Unterentwicklung, Arbeitslosigkeit und große Armut herrschen, Verbündete unter Beduinen gefunden, die Waffen und Drogen schmuggeln oder durch Entführungen eritreischer und sudanesischer Migranten, die nach Israel wollen, Lösegeld erpressen.
Nutznießer von Spaltung und Chaos
Im Norden der Sinai-Halbinsel ist die Lage nicht mehr so ernst wie zwischen 2014 bis 2018. Das geht vor allem auf das Eingreifen der ägyptischen Armee zurück, die trotz ihrer strategischen Zurückhaltung auf die Unterstützung der großen Beduinen-Clans und die militärische Zusammenarbeit mit Israel zählen konnte. Hilfreich war auch die Verfolgung dschihadistischer Zellen durch die Hamas.
Doch die Lage hat sich keineswegs dauerhaft stabilisiert. In einem Bericht von Human Rights Watch heißt es: „Anstatt die Bewohner des Sinai vor den Angriffen der Milizen zu schützen, behandeln die ägyptischen Sicherheitskräfte die Bevölkerung mit äußerster Missachtung und machen ihren Alltag durch ständige Übergriffe zum Albtraum.“3 Damit verstärken sie das Misstrauen gegenüber der Regierung und bestätigen die Propaganda der Terroristen.
Der IS profitiert auch von den internen Spaltungen der Staaten. In Libyen nutzte er das Chaos, das die von den UN abgesegnete Militärintervention vom März 2011 angerichtet hat, und konnte die Stadt Sirte samt einem Stück Mittelmeerküste unter seine Kontrolle bringen. Allerdings wurde der IS von der Bevölkerung wegen seiner religiösen Tyrannei wieder vertrieben und hat sich inzwischen in der Kyrenaika nahe der tschadischen Grenze festgesetzt. Dort liefern sich die IS-Kämpfer immer wieder Gefechte mit der Libyschen Nationalarmee (LNA) von Marschall Chalifa Haftar, einem der Hauptakteure im Bürgerkrieg.
Auch in Zentral- und Ostafrika hat der IS Fuß gefasst und richtet den Blick inzwischen auf die Demokratische Republik Kongo (DRK). Im Osten der DRK toben Kämpfe zwischen der Armee und diversen Milizen. Eine von ihnen, die islamistische Rebellengruppe Alliierte Demokratische Kräfte (AFD), ist eine Koalition bewaffneter Gruppen aus Uganda, die, wie es Radio France Culture formulierte, einen „Dschihad aus den Tiefen des Dschungels“ führt.
In der mosambikanischen Provinz Cabo Delgado rebelliert die Bevölkerung gegen die Regierung, weil sie von den Gewinnen aus der Gasförderung nichts abbekommt. An diesen Volksaufstand hat sich auch die Al-Shabaab-Bewegung (Arabisch für „die Jugend“) gehängt.4 Um die verschiedenen dschihadistischen Gruppen in Zentralafrika zu verknüpfen, hat der IS den Ableger IS-CAP (Islamic State Central Africa Province) gegründet; inzwischen rekrutiert er bereits Kämpfer aus Burundi, Tansania und Kenia.
In Nigeria – einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung von weniger als 2 Dollar pro Tag leben muss – ist der IS im Nordosten unter dem Namen Iswap (Islamic State West Africa Province) aktiv. Dort sind neben dem Iswap, der sich auf marginalisierte Gruppen stützt, zwei rivalisierende Flügel der dschihadistischen Organisation Boko Haram vertreten. Einer davon bekennt sich offiziell zum IS. Der andere hat sich an die Ufer des Tschadsees zurückgezogen, wo er Schutzgeld von nigerianischen Fischern erpresst und im Norden Kameruns plündernd und raubend Angst und Schrecken verbreitet.
Als Reaktion auf diese Bedrohung hat die Afrikanische Union bereits 2015 eine multinationale Truppe (MNJTF) aufgestellt, mit Kontingenten aus Benin, Kamerun, Niger, Nigeria und Tschad. Laut Human Rights Watch begeht diese Truppe bei ihren Einsätzen schwerste Verbrechen, darunter Massenhinrichtungen, systematische Folter und willkürliche Verhaftungen.5
Auch in die Sahelzone hat der IS seine Aktionen mittlerweile ausgeweitet. Nachdem er die mit al-Qaida verbundenen Gruppen verdrängt hatte, entstand ein weiterer IS-Ableger namens Islamischer Staat – Sahel Provinz (ISSP), der auch die Grenzregionen zwischen Mali, Burkina-Faso und Niger mit Mord und Raub überzieht.
Auch hier kann der IS die regionalen Turbulenzen für sich ausnutzen. Nach mehreren Staatsstreichen hat das seit 2013 in drei Sahelstaaten stationierte französische Militär seine Operationen im Februar 2022 eingestellt, und Paris musste seine Soldaten auf Druck der neuen Regime abziehen, was von einer Mehrheit der Bevölkerung begrüßt wurde.
Im Juni 2023 beendeten die Vereinten Nationen auf Antrag der malischen Militärregierung die Minusma-Friedensmission. Dieser Rückzug und der Abzug der französischen Spezialeinheiten spielte den Dschihadisten in die Hände. Die wurden nun auch im bis dahin relativ ruhigen Nachbarland Niger aktiv, wo seit August 2023 bei mehreren Überfällen 28 Angehörige der nigrischen Sicherheitskräfte getötet wurden.
Auch in Afghanistan und auf der Arabischen Halbinsel ist der IS präsent. Im August 2023 hatten die Taliban bei ihren Gesprächen mit den USA in Doha zugesagt, gegen den in Afghanistan operierenden IS-K vorzugehen.6 Der Taliban-Regierung ist es bisher aber nicht gelungen, die Gewalt gegen die schiitische Minderheit der Hazara einzudämmen.
In Afghanistan setzt der IS-K auf die bewährte Methode, ethnische Unterschiede auszunutzen, indem er den Tadschiken, die in der Minderheit sind, Unterstützung und Schutz vor der Mehrheit der Paschtunen bietet. Die Terrororganisation wirbt ausländische Kämpfer aus Zentralasien und dem Kaukasus an, rekrutiert aber auch radikale Anhänger des mächtigen Haqqani-Netzwerks. Dessen Anführer Siradschuddin Haqqani ist Innenminister in der Taliban-Regierung mit Verbindungen zu al-Qaida, die in Afghanistan nach wie vor aktiv ist.
Zwar konnten die Taliban die Hazara nicht schützen, aber sie haben zumindest die Dschihadisten daran gehindert, erneut ein eigenes Kalifat zu errichten. Doch als ein Land mit einem der niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt, das ohne UN-Hilfen nicht überleben könnte, ist Afghanistan extrem gefährdet. Und ein vollständiger Zusammenbruch der sozialen und der Sicherheitsstrukturen käme vor allem dem IS zugute.
Im Jemen bekriegen sich der IS und al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (Aqap) in einem großen Gebiet von der Küste des Arabischen Meers bis in den Norden des Landes. Acht Jahre nach Beginn des militärischen Konflikts herrscht ein Zustand, der weder Krieg noch Frieden ist. Seit April 2023 laufen komplizierte Verhandlungen zwischen der von Saudi-Arabien angeführte Koalition, die den Präsidialrat unterstützt, und den von Iran unterstützten Huthi-Rebellen (siehe „Was wollen die Huthis?“). Beide Lager sind nach wie vor entschlossen, weiterzukämpfen, was die Aussicht vermindert, dass das einstige „Arabia Felix“ zu Frieden und Sicherheit zurückfindet.
Um weiter nach Osten vorzudringen, versuchte der IS in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens (Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan) Gruppen aufzubauen. In China und in Russland ist es aussichtslos, weil die repressiven Regime entschlossen sind, die Islamisten von ihren Grenzen fernzuhalten. Hier muss sich die Organisation auf Rekrutierungskampagnen beschränken.
Seit sich die Islamische Bewegung Usbekistan (IBU) zum IS bekannt hat, wurde sie zu einem Rekrutierungszentrum für uigurische, tschetschenische, usbekische, tadschikische, kirgisische, kasachische und turkmenische Freiwillige. 2017 stellten Kämpfer aus diesen Ländern das größte Kontingent des syrisch-irakischen IS-Kalifats. Als dieses Gebilde zwei Jahre später zusammenbrach, fanden einige von ihnen Zuflucht in der letzten syrischen Rebellenhochburg Idlib, während andere nach Afghanistan weiterzogen.
Der IS versucht auch in Südostasien Fuß zu fassen. Auf der philippinischen Insel Mindanao führt die muslimische Minderheit seit Langem einen bewaffneten Kampf gegen die dominierende christliche Mehrheit, der IS hat die muslimische Guerillatruppe unterwandert und 2017 kurzzeitig Marawi, die größte muslimische Stadt des Archipels, erobert. Von den philippinischen Streitkräften wurden sie wieder vertrieben.
In Europa schließlich hat der IS das letzte Mal im November 2020 in Wien zugeschlagen. Bei dem Attentat starben 4 Menschen und 23 wurden verletzt. Seither gab es nur noch Aktionen von Einzelkämpfern, die sich auf den IS berufen. Die Organisation war in diesen Fällen nie direkt beteiligt und hat immer erst im Nachhinein die Verantwortung für diese Art von individuellem Terrorismus übernommen.
1 Siehe Adel Bakawan, „Die Macht des Haschd“, LMd, Oktober 2023.
2 Siehe Laurent Perpigna Iban, „Angriff bei Nacht“, LMd, Dezember 2021.
3 „If you are afraid of your lives, leave Sinai!“, Bericht von Human Rights Watch, Mai 2019.
4 Siehe Stefano Liberti, „Flüssiggas aus Mosambik?“, LMd, September 2023.
5 Berichte von Amnesty International, 20. Juli 2017, und von Human Rights Watch, 5. April 2021.
6 Das K bezieht sich auf die alte zentralasiatische Großregion Khorasan, die das heutige Territorium von Afghanistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan umfasst.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Jean Michel Morel ist Journalist und Redakteur beim Onlinemagazin Orient XXI.