Erdoğan bleibt
Die Euphorie über das gute Wahlergebnis der türkischen Opposition ist verfrüht
Die Kommunalwahlen vom 31. März 2024 wurden in den internationalen wie in den regimekritischen inländischen Medien fast unisono als „Sieg der Opposition“ bewertet. Das ging so weit, dass viele Beobachter von einem unmittelbar bevorstehenden Machtwechsel in der Türkei sprachen.
Solche voreiligen Prognosen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, auch wenn das Wunschdenken verständlich ist. Schließlich hat das Erdoğan-Regime große Teile der türkischen Bevölkerung und viele internationale Akteure einschließlich der westlichen Partner gegen sich aufgebracht. Aber wir sind noch weit davon entfernt, die Türkei und die Welt von diesem autokratischen Herrscher befreit zu sehen.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Zuallererst gilt es zu bedenken, dass in diesem hyperzentralisierten System die Kommunen einer totalen „Verwaltungsaufsicht“ durch die Zentralregierung unterliegen, die in Artikel 127 der Verfassung festgeschrieben ist.1 Außerdem hat eine lokale Wahl noch nie die Politik auf nationaler Ebene direkt beeinflusst, geschweige denn vorzeitige Parlamentswahlen herbeigeführt, wie einige selbsternannte Wahlexperten verkündeten.
An diese traurige Realität hat uns Erdoğan gleich nach der Wahl erinnert, als er am 17. April auf X schrieb, einige Leute seien darauf aus, eine Dualität von „lokaler und zentraler Macht“ zu konstruieren: Das sei „nichts als ein Hirngespinst. In unseren 81 türkischen Provinzen gibt es nur eine Regierung, die des Präsidenten und seines Kabinetts, die von der Nation bei den Wahlen vom Mai 2023 mit der Regierung des Landes betraut wurde.“
Wie alle antidemokratischen Regime will sich auch das türkische schon deshalb nicht einfach abwählen lassen, weil es sonst Gefahr laufen würde, für seine zahllosen Rechtsverstöße zur Verantwortung gezogen zu werden. Erdoğan wird sich bis zum Ende an die Macht klammern, unterstützt von knapp der Hälfte der Bevölkerung, die von seinem Regime profitiert.
Zweitens wurden diese Kommunalwahlen nicht so sehr von der Opposition gewonnen als vielmehr vom Regime verloren, was viele Ursachen hat, darunter krasse Fehler in der Wirtschaftspolitik, unverhüllter Nepotismus und soziale Ungerechtigkeit.
Den Zustand der Türkei könnte man auch kurz und bündig so beschreiben: Erdoğans absolute Macht hat dazu geführt, dass fast die gesamte politische Klasse absolut korrumpiert ist. Die Opposition hat für ihren angeblichen Sieg fast nichts getan. In den letzten 22 Jahren beschränkte sich ihre Politik im Grunde auf drei Ziele: erstens Erdoğan loswerden; zweitens zur Vor-Erdoğan-Ära zurückkehren (und zwar ohne die geringsten Veränderungen); drittens jeden Verdacht einer Kooperation mit prokurdischen Partei DEM oder den Kurden allgemein vermeiden.
Mit einem derart dürftigen Programm kann man sich nicht als Alternative in Stellung bringen. Zudem hat die Opposition eine weitere Schwäche: Sie setzt sich aus höchst unterschiedlichen Kräften zusammen, die nur ein Kriterium eint: dass sie gegen die Regierung sind. So zählt man etwa die Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah), eine im Vergleich mit Erdoğans AKP geradezu ultraislamistische Partei, nur deshalb zur Opposition, weil sie ein paar Rathäuser von der AKP erobert hat.
Bei den Wahlberechtigten, die ihre Stimme nicht der AKP gegeben haben, kann man drei Gruppen unterscheiden: erstens die Unzufriedenen (darunter auch frühere Regime-Anhänger); zweitens die „strategischen“ Stimmen der kurdischen Bevölkerung, die Erdoğan und sein Regime abstrafen wollen; und drittens vergrätzte Regime-Anhänger, die gar nicht erst an den Wahlen teilgenommen haben.
Das Ergebnis war, dass die größte Oppositionspartei, die kemalistische CHP, in 15 Provinzen auf mehr als 50 Prozent Stimmenanteil kam; unter anderem in Istanbul, wo Erdoğangs potenzieller Herausforderer Ekrem İmamoğlu als Bürgermeister wiedergewählt wurde. Die Metropole am Bosporus gehört zu den zehn Provinzen, in denen die CHP ihre besten Ergebnisse eingefahren hat. In Izmir fiel sie dagegen unter 50 Prozent, konnte aber das Bürgermeisteramt in ihrer traditionellen Hochburg behaupten.
Den niedrigsten Stimmenanteil verzeichnete die CHP erneut in den östlichen Provinzen mit mehrheitlich kurdischer Bevölkerung, die massiv ihre eigenen Kandidaten unterstützt und die nationalistische CHP abgestraft hat. Die kam im Osten nicht einmal auf 3 Prozent der Wählerstimmen, wohingegen sie im Westen viele kurdische Stimmen gewinnen konnte.
Die AKP blieb erstaunlicherweise selbst im konservativen Konya unter der 50-Prozent-Grenze. Dagegen konnte sie Antakya und die umliegende Provinz Hatay von der CHP zurückerobern. Auch wenn das Wahlvolk dem Erdoğan-Regime aufs Ganze gesehen einen Denkzettel verpassen wollte, reduzierten sich die Pro-Regime-Stimmen gegenüber den Parlamentswahlen vom Mai 2023 lediglich um 2 Prozentpunkte (1,2 Millionen Stimmen).
Was haben wir bis zu den nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im April 2028 zu erwarten? Bei der CHP behaupten viele, die Türkei sei mit dem jüngsten Wahlergebnis „sozialdemokratisch“ geworden. Mit fast 38 Prozent Stimmanteil hat die Opposition die AKP zwar nur knapp hinter sich gelassen, aber ihr Ergebnis von 24 Prozent bei den Parlamentswahlen vom Mai 2023 um ein Drittel übertroffen. Für die CHP ist dies der höchste Stimmanteil seit 1977.
Freilich ist es unrealistisch, bereits von einer landesweiten politischen „Wende“ zu sprechen, nur weil sie auf lokaler Ebene, zum Beispiel in Adıyaman im Südosten, stattgefunden hat. Hier hat eine zutiefst konservative Bevölkerung einen CHP-Bürgermeister gewählt, woraufhin traditionelle AKP-Wähler mit ihren Nachbarn von der CHP gemeinsam auf der Straße tanzten. Wie in der Millionenstadt Konya, so hat sich auch in der vom Erdbeben 2023 schwer betroffenen Provinz Adıyaman gezeigt, was die „negativen Stimmen“ enttäuschter Erdoğan-Anhänger bewirken können.
Auf nationaler Ebene kann das Regime allerdings noch einige Karten ausspielen, um die Wahllandschaft in seinem Sinne zu konsolidieren. Zum Beispiel hat es die Möglichkeit, die aktuelle Regierungskoalition um islamistische und nationalistische Parteien zu erweitern, als da sind: die (Neue Wohlfahrtspartei), die İyi Parti (Gute Partei), die Saadet (Partei der Glückseligkeit), die Gelecek (Zukunftspartei), die Zafer (Partei des Sieges) und die Hüda Par (Partei der Freien Sache).
Diese Kleinparteien werden schwerlich vier Jahre lang in der Opposition bleiben und sich der CHP unterordnen, mit der sie sehr wenig gemein haben. Mithilfe einer neu zusammengebastelten Koalition könnte Erdoğan seinen Traum realisieren, eine maßgeschneiderte Verfassung durchs Parlament zu bringen, die sein Regime auf Dauer absichert.
Auf eine zweite Möglichkeit hat Erdoğan bereits am Wahlabend hingewiesen, als er umfassende Strafexpeditionen gegen die Kurden ankündigte, die er als Hauptschuldige für die Verluste seiner AKP ausgemacht hat. Tatsächlich werden militärische Operationen in kurdischen Gebieten – sowohl in der Türkei wie im Irak – vorbereitet. Nach Angaben von PKK-nahen Medien startete die türkische Armee am 21. April bereits eine neue Offensive gegen die PKK im Nordirak.
Neue Offensive gegen die PKK
Außerdem will die Türkei in Irakisch-Kurdistan eine große Militärbasis errichten – nur 40 Kilometer südlich der türkischen Grenze und unweit des PKK-Hauptquartiers in den Kandil-Bergen. Die USA haben diesem Plan offenbar schon zugestimmt, und das Einverständnis der kurdischen Autonomieverwaltung im Irak hat sich Erdoğan am 22. April bei seinem Besuch in Erbil eingeholt.
Innerhalb der Türkei werden die neuen Militäroperationen die Opposition schwächen – mit Ausnahme der prokurdischen DEM. Wie bei früheren Offensiven gegen die Kurden werden sich die nationalistischen Parteien hinter den Oberkommandierenden Erdoğan stellen. Das Regime hat sich die nationalistischen Reflexe der Opposition, allen voran der CHP, schon des Öfteren zunutze gemacht: Wann immer es einen nationalen Konsens herstellen und die Opposition kaltstellen wollte, wurden Aktionen gegen „Feinde“ in der Region gestartet.
Ein dritter Hebel, über den Erdoğan verfügt, ist die im Verfassungsartikel 127 verankerte „Verwaltungsaufsicht“ der Zentralregierung über die lokalen Behörden. Unter Berufung auf eine ökonomische Notlage kann Ankara die oppositionellen Stadtverwaltungen lahmlegen, weil die operativen Kosten der Gemeinden zu 90 Prozent aus dem nationalen Haushalt finanziert werden.
Einem Pressebericht zufolge hat Finanzminister Mehmet Şimşek bereits erklärt, die Kommunalverwaltungen müssten künftig ohne „die großzügige Unterstützung“ aus Ankara zurechtkommen. Das wäre ein harter Schlag für das Prestige der oppositionellen Bürgermeister, von denen die Bevölkerung sehr viel erwartet, die aber schon jetzt unter riesigen Altschulden ächzen.
Allerdings gibt es einen Faktor, der Erdoğan schaden könnte. Der türkische Präsident hat keinen auserwählten Nachfolger. Er ist zwar von Aspiranten umgeben, zu denen sein jüngerer Sohn Bilal und sein Schwiegersohn Selçuk Bayraktar gehören, doch keiner von beiden wird von der regimetreuen Wählerschaft respektiert.
Aus dem Kreis der engsten Erdoğan-Vertrauten bietet sich nur einer an: Hakan Fidan, seit Juni 2023 Außenminister. Fidan war 13 Jahre lang Chef des Geheimdienstes MİT, für den ihn Erdoğan schon 2007 rekrutiert hatte. Im Laufe seiner Karriere hat er viele verschiedene Posten bekleidet, sodass er zu den wichtigsten nationalen und internationalen Machtzentren Kontakte knüpfen konnte.
Schon vor seiner Berufung zum Außenminister hat Fidan seinen Chef auf vielen Auslandsreisen begleitet. Seit dem gescheiterten Putsch2 vom 15. Juli 2016 besteht zwischen Erdoğan und Fidan, der als Chef der MİT über alles unterrichtet gewesen sein muss, eine undurchsichtige Beziehung.
Fidan verfügt zudem über eine eigene Machtbasis, die er seiner Vernetzung mit dem türkischen Militär, mit nationalen und internationalen Geheimdienstkreisen, der Nato und mächtigen US-Kreisen verdankt. Für seine Hausmacht ist wiederum interessant, dass er väterlicherseits dem wichtigen kurdischen Zilan-Clan (Zilan Aşireti) entstammt.
Die Entwicklung könnte am Ende – je nach dem Gesundheitszustand und den persönlichen Plänen Erdoğans – auf ein Szenario à la Jelzin/Putin hinauslaufen, wenn der neue Herrscher womöglich so agiert, dass man sich nach dem alten zurücksehnt.
Eine wichtige Rolle spielt schließlich der fürchterliche Zustand der staatlichen Institutionen. Nicht weniger als sechs zentrale Bereiche – das Gerichtswesen, die Streitkräfte, der diplomatische Dienst, die Universitäten, die Wirtschaft und die öffentliche Verwaltung – haben in der Ära Erdoğan eine Schwächung zugunsten des Präsidentenpalastes erfahren. Zu diesen strukturellen Defekten ist noch die kurdenfeindliche Haltung des gesamten politischen Systems zu zählen.
Eine der größten Belastungen wird ganz sicher die Lage der türkischen Wirtschaft bleiben, über die sich alle Bürgerinnen und Bürger größte Sorgen machen. Die ökonomischen Institutionen sind zerrüttet und die staatlichen Kassen leer. Der akute Geldbedarf des Landes kann nicht mehr durch Überweisungen aus befreundeten Petromonarchien oder durch Schwarzgelder aller möglichen Schieber und Dealer abgedeckt werden.
Insgesamt ist es um Zukunft des Landes nicht gut bestellt. Doch obwohl das türkische Regime im Innern mit dem Rücken zur Wand steht, tritt es nach außen so anmaßend wie immer auf. Damit bleibt es weiterhin unberechenbar und instabil – mit einer Neigung zu Repression nach innen und zu Aggression nach außen.
Die Kommunalwahlen haben zwar eine gewisse Hoffnung auf Wandel reanimiert, aber man sollte sich vor allzu großer Begeisterung hüten. Es wäre nicht das erste Mal in unserer Geschichte, dass die Chance, strukturelle Schwierigkeiten in eine Dynamik des Wandels zu übersetzen, auf politischer Ebene blockiert wird.
Die Türkei ist weit davon entfernt, ein Land mit festen Regeln, Prinzipien und Standards zu sein, in dem ein politischer Machtwechsel reibungslos vonstatten gehen kann. Es wäre ein fataler Irrtum, dieses Land als etwas zu sehen, was es nicht ist.
1 Siehe die türkische Verfassung, ins Deutsche übersetzt von Christian Rumpf: Die Verfassung der Republik Türkei, Stand Januar 2021.
2 Siehe Günter Seufert, „Anatomie eines Putsches“, LMd, August 2008.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Cengiz Aktar lehrt Politikwissenschaften an der Universität Athen. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt: „Die türkische Malaise“, Wettingen (Kolchis Verlag) 2021.
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