Markt des Südens

Le Monde diplomatique –

Neue Chancen für das lateinamerikanische Integrationsprojekt Mercosur

Simón Bolívar, genannt der „Libertador“, träumte Anfang des 19. Jahrhunderts davon, Lateinamerika zu vereinigen, um es unabhängig zu machen. 1991 schlossen sich Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay tatsächlich zusammen, allerdings mit einem anderen Ziel: der Vergrößerung ihrer Märkte.

Am 26. März jenes Jahres unterzeichneten die (damals allesamt konservativen) Regierungen der vier Länder den Vertrag von Asunción, mit dem der Gemeinsame Markt des Südens (Mercado Común del Sur, Mercosur) ins Leben gerufen wurde. Innerhalb von vier Jahren sollte ein gemeinsamer Wirtschaftsraum geschaffen werden, der durch eine „Koordinierung der makroökonomischen Politik“ und eine bessere „Komplementarität der Wirtschaftszweige“ die „internationale Eingliederung“ gewährleisten sollte, und zwar im Einklang mit der „Entwicklung des internationalen Umfelds“.1

Dieses internationale Umfeld veränderte sich damals grundlegend: Der Himmel schimmerte nicht mehr rot, sondern grün wie eine Dollarnote. Mit dem Ende des Sowjetblocks schienen die USA und das neoliberale Wirtschaftsmodell zu triumphieren, der damalige Nato-Generalsekretär mahnte im Juli 1990 in Moskau, die Zeit sei nun reif für den „Übergang zu effizienten Marktwirtschaften“. Im Kontext der neuen unipolaren globalen Ordnung folgten politische Entscheidungen den Gesetzen der Ökonomie, wie sie insbesondere von Weltbank, Internationalem Währungsfonds (IWF) und im Zoll- und Handelsabkommens GATT – definiert wurden.

Lateinamerika geriet in die Schuldenfalle. Es folgte ein „verlorenes Jahrzehnt“ ohne nennenswertes Wirtschaftswachstum. Damit war die Stunde der Strukturanpassungspolitik gekommen, die sich am sogenannten Washingtoner Konsens orientierte und im Wesentlichen aus Privatisierungen, Deregulierung und einem drastischen Abbau öffentlicher Investitionen und staatlicher Dienstleistungen bestand.

Die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) hatte lange auf die Fehler des internationalen Systems hingewiesen, von dem in erster Linie die industrialisierten Länder des „Zentrums“ profitierten, auf Kosten der rohstoffproduzierenden Peripherie. Stattdessen hatte sie eine regionale Integration gefordert, die eine durch hohe Zollmauern geschützte Industrialisierung voranbringen sollte. 1990 vollzog jedoch auch die Cepal eine neoliberale Wende und fördert seither einen „offenen Regionalismus“.2

Die Politik der Industrialisierung durch Importsubstitution wurde über Bord geworfen, regionale Integration galt nur noch als Mittel zur Steigerung der Exporte durch „Offenheit und Deregulierung, um die Wettbewerbsfähigkeit der Länder in der Region zu erhöhen“.3

Mehr als eine Freihandelszone

So wurde zunächst ein Programm zur Liberalisierung des Handels aufgelegt, bis die vier Länder dann am 1. Januar 1995 – weiterhin unter dem Namen Mercosur – eine Zollunion gründeten. Obgleich alles andere als perfekt, stellte sie doch das erfolgreichste Integrationsprojekt dar, das Lateinamerika bis dahin erlebt hatte. Mit einer bereits im Dezember 1994 im Protokoll von Ouro Preto verankerten institutionellen Struktur und einem gemeinsamen Außenzolltarif für 85 Prozent der Handelsgüter koordinierten die Mitgliedstaaten ihre Außenhandelspolitik.

Der Außenhandel des Mercosur-Blocks wuchs innerhalb von vier Jahren um 53 Prozent bei den Exporten und 114 Prozent bei den Importen. Der Binnenhandel verdreifachte sich nahezu von 10,4 auf knapp 30 Milliarden Dollar und machte 1998 auf seinem Höhepunkt ein Viertel des gesamten Handels der Mercosur-Mitglieder aus. Zuvor waren es nie mehr als 10 Prozent gewesen.

Während US-Diplomaten noch 1947 dafür plädiert hatten, „sich allem zu widersetzen, was die Bildung eines ‚Südblocks‘ erleichtern könnte“ und die (an US-Interessen ausgerichtete) „Einheit der Hemisphäre gefährden würde“4, waren sie durch den neoliberalen Rahmen des Mercosur beruhigt – zumindest anfangs.

Dies aber änderte sich, als Brasilien auf der Grundlage des Vertrags von Asunción für die Schaffung einer südamerikanischen Freihandelszone warb, im Gegensatz zur „Initiative for the Americas“ des damaligen Präsidenten George H. Bush, dem eine panamerikanische Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (mit Ausnahme von Kuba) vorschwebte. Das Projekt wurde schließlich von Bushs Nachfolger Clinton 1994 unter der Schirmherrschaft der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) begonnen, doch es sollte den lateinamerikanischen Linksruck ein paar Jahre später nicht überleben.

Mit dem Amtsantritt des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva und seines argentinischen Kollegen Néstor Kirchner im Jahr 2003 kam neuer Schwung in den Mercosur. Nun wurden wieder politische Themen auf die Tagesordnung gesetzt, ein gemeinsames Parlament geschaffen (Parlasur), ebenso wie Institutionen für Sozialpolitik und Menschenrechte und ein Strukturfonds. Gemäß dem von beiden Präsidenten geschmiedeten „Konsens von Buenos Aires“ sollte aus dem Gemeinsamen Markt des Südens ein geopolitischer Handlungsrahmen werden – ein neues Machtinstrument zur Förderung der regionalen Integration und der Süd-Süd-Zusammenarbeit.

Anfang der 2000er Jahre kamen in Lateinamerika mehrere linke Regierungen an die Macht. Innerhalb des Mercosur wurde die Linke durch die Wahl von Tabaré Vázquez in Uruguay (2004) und Fernando Lugo in Paraguay (2008) weiter gestärkt. Für die USA wurde der Mercosur spätestens mit der Aufnahme von Venezuela unter Hugo Chávez als fünftes Mitglied im Jahr 2006 vollends zu einer „antiamerikanischen politischen Organisation“.5 Die US-Regierung unterstützte stattdessen nun die Pazifik-Allianz (PA), die 2011 von Chile, Kolumbien, Mexiko und Peru gegründet wurde, also von konservativ regierten Ländern, mit denen Washington bereits Freihandelsabkommen unterzeichnet hatte.

Nach dem Ende der „rosaroten Welle“ in Lateinamerika und der Rückkehr der Rechten in Paraguay (2012), Argentinien (2015) und Brasilien (2016) suspendierte der Mercosur die Mitgliedschaft Venezuelas und kehrte zu seinen rein handelsorientierten Ursprüngen zurück. Dreißig Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrags von Asunción sprach sich der Mitbegründer des Mercosur und ehemalige uruguayische Präsident Luis Alberto Lacalle Herrera dafür aus, die Verbindungen zwischen den Mitgliedstaaten „zu lockern, rein kommerziell zu gestalten und die politischen Anhängsel zu entfernen“.6

Sein Sohn Luis Lacalle Pou, der im November 2019 Präsident wurde, legt es offenbar darauf an, den Vertrag von 1991 zu unterlaufen. Seine Regierung, die unlängst Handelsgespräche mit China und der Türkei aufnahm, setzt sich für eine „Flexibilisierung“ ein, die jedem Mercosur-Mitglied den Abschluss bilateraler Handelsabkommen erlaubt. Er spricht sogar davon, die Zollunion zu zerschlagen und den Mercosur zur reinen Freihandelszone zu machen. Zudem reichte Uruguay zum großen Ärger seiner Partner Ende 2022 offiziell einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) ein, einem Freihandelsabkommen, das bereits Chile, Mexiko und Peru unterzeichnet haben.

„Es stehen sich zwei Integrationskonzepte gegenüber“, analysiert Ernesto Samper, ehemaliger Generalsekretär der Union Südamerikanischer Nationen (Unasur), einer 2008 gegründeten Organisation zur regionalen Wirtschaftsintegration, mit der die späteren konservativen Regierungen nichts mehr zu tun haben wollten. „Das eine, konservative, in dem jedes Land seine eigenen Interessen verfolgt und eine enge Beziehung zu den USA – genau genommen eine Unterordnung – vorsieht. Und das andere, das progressive, das über den Handel hinaus einen umfassenden Regionalismus anstrebt.“

In seinem letzten Jahresbericht meldet der Mercosur den Anstieg des Handelsvolumens um 37 Prozent im Jahr 2021 auf 600 Milliarden US-Dollar. Der Handelsbilanzüberschuss übertraf mit fast 80 Milliarden Dollar sogar die Zahlen vor der Coronapandemie. Allerdings sind diese Ergebnisse hauptsächlich auf den Preisanstieg bei den Rohstoffen zurückzuführen, die allein 80 Prozent der Exporte ausmachen.

Das „strukturell schwache“ Wachstum im Mercosur-Raum lasse sich damit jedoch kaum kaschieren, heißt es vonseiten der Cepal. Deren Ökonomen warnen zudem vor dem Verlust von Marktanteilen insbesondere im verarbeitenden Gewerbe, zumal dessen Anteil am Handelsvolumen innerhalb des Mercosur auf 11 Prozent gefallen ist. Sie warnen auch vor „zunehmender Desintegration sowohl beim Handel als auch in der Produktion“.7

In dieser Situation plädierte der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva dafür, den Ratifizierungsprozess des Freihandelsabkommens zwischen dem Mercosur und der Europäischen Union wieder aufzunehmen. Er und seine Berater versprechen sich davon die Entwicklung von Industrie und Technologie in Südamerika und eine bessere Position im multipolaren Spiel: Eine Diversifizierung der Handelspartner würde dem Mercosur ermöglichen, unabhängig von der Handelsrivalität zwischen China und den USA zu agieren.8

Die Bancada Progresista, die linke Fraktion im Parlasur, hat da ihre Zweifel. Ubaldo Aita aus Uruguay erklärte dazu, der Markt sei nicht in der Lage, die Herausforderungen zu bewältigen. „Im Gegenteil, die internationale Arbeitsteilung beschränkt unsere Region auf die Produktion von Waren mit geringer Wertschöpfung.“

Dass eine Öffnung der Schleusen beim Handel mit dem alten Kontinent die Mercosur-Länder wirklich aus ihrer wirtschaftlichen Sackgasse führen würde, bezweifelt auch Alejandro Karlen, Leiter der argentinischen Delegation im Parlasur. „Unsere Bevölkerung braucht kein Abkommen mit der EU, das nur dazu dienen würde, unsere Wirtschaft auf Rohstofflieferungen zu beschränken“, sagte er im Gespräch mit Europaparlamentarier:innen der Grünen Fraktion, die ihrerseits Bedenken haben wegen des Sojaanbaus und der Abholzung der Wälder (siehe Kasten im Anschluss an diesen Text)

Gelegentlich wird der Vertrag mit der EU auch als ein „Cars for cows“- Deal beschrieben: Autos gegen Rindfleisch. Die Formel steht für den klassischen Nord-Süd-Handel, Industrieprodukte gegen Rohstoffe, wodurch sich auch die Asymmetrien innerhalb des lateinamerikanischen Blocks noch verstärken dürften.

Kann die Rückkehr von Lula da Silva an die Macht also wirklich zum Wiederaufleben eines progressiven Mercosur beitragen, der doch gerade den Verlockungen des Freihandels nachzugeben scheint? Mit 270 Millionen Einwohnern, einem Großteil der Fläche des Subkontinents und fast der Hälfte des lateinamerikanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist der Mercosur die achtgrößte Wirtschaftsmacht der Welt; und sie könnte eine wichtige geopolitische Rolle spielen – erst recht, wenn es zu einem Bündnis mit Venezuela oder Bolivien kommt.

Allerdings ist eine Wiederbelebung des progressiv ausgerichteten Mercosur ungewiss, denn sie stützt sich auf die strategische Allianz Brasiliens und Argentiniens und ist daher politischen Schwankungen unterworfen. Im Oktober finden in Argentinien Präsidentschaftswahlen statt.

„Mit einem ‚solidaristischen‘ Ansatz könnte der Mercosur zum Sprungbrett für seine Mitglieder werden, um mehr Autonomie und Handlungsspielraum im internationalen System zu erlangen“, ist Alejandro Simonoff, Professor für Internationale Beziehungen an der argentinischen Universität La Plata, überzeugt. „Er könnte als Beispiel für andere lateinamerikanische Länder dienen, als Vorbild einer weitreichenden regionalen Integration, mit der politisch koordiniert die untergeordnete Position bekämpft werden kann, die uns als periphere Staaten strukturell zugewiesen wird.“

Wenn es dazu käme, hätte der 1994 verstorbene argentinische Linksnationalist Jorge Abelardo Ramos recht gehabt mit seiner These, dass seit der Unabhängigkeit in Lateinamerika nichts Wichtigeres passiert sei als die Gründung des Mercosur.

1 „Vertrag über die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes“, Asunción, 26. März 1991.

2 Siehe Baptiste Albertone und Anne-Dominique Correa, „Die Wirtschaftsvisionäre Lateinamerikas“, LMd, Februar 2022.

3„El regionalismo abierto en América Latina y el Caribe: la integración económica al servicio de la transformación productiva con equidad“, Cepal, Santiago de Chile, September 1994.

4 Memo des Direktors des Office of American Republic Affairs vom 20. Mai 1947, Archiv des US-Außenministeriums.

5 Im März 2011 von Wikileaks veröffentlichtes Kabel der US-amerikanischen Botschaft in Asunción vom 17. Mai 2007.

6 Presseschau des Mercosur-Parlaments vom 18. bis 20. September 2021.

7Mercosur-Außenhandelsbulletin Nr. 5, Cepal, Juni 2022.

8„América del Sur en la nueva geopolítica global“, Interview mit Celso Amorim (wichtigster diplomatischer Berater von Präsident Lula), Grupo de puebla, 27. Oktober 2022.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Luis Alberto Reygada ist Journalist.

Abkommen mit der EU

Seit 20 Jahren laufen die Verhandlungen, nun wird es ernst: Bis Ende Juni soll das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten stehen. So will es die EU-Kommission in Brüssel, die für die europäische Handelspolitik zuständig ist. Der Vertrag ist schon seit 2019 fertig – nun geht es in Brüssel nur noch um eine Zusatzerklärung, die für mehr Nachhaltigkeit und mehr Rechte für die indigene Bevölkerung sorgen soll.

Doch beim letzten EU-Gipfel im März waren sich die 27 Mitgliedstaaten immer noch nicht einig. Vor allem Frankreich stand auf der Bremse. Präsident Emmanuel Macron hat schon genug Ärger mit seiner Rentenreform – da will er sich nicht auch noch mit den Bauern anlegen, die Billigimporte von südamerikanischem Rindfleisch fürchten. Ähnliche Bedenken gibt es in Österreich und in den Niederlanden.

Deutschland ist in der Frage gespalten: Zwar hat sich Bundeskanzler Olaf Scholz auf seiner Lateinamerika-Reise im Januar für einen zügigen Abschluss ausgesprochen. Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck sieht gute Chancen für eine Einigung – falls der Schutz des Regenwalds gesichert sei. Doch genau dies bezweifeln viele. Man laufe Gefahr, die Entwaldung „durch steigende Agrarexporte noch weiter voranzutreiben“, warnte die grüne Europaabgeordnete Anna Cavazzini.

Noch weiter gehen die Einwände von NGOs wie Misereor oder Greenpeace. Ein wirksamer Schutz von Menschenrechten und Umweltstandards könne „nur durch eine Neuverhandlung erreicht werden“, sagt Armin Paasch, Handelsexperte von Misereor. Ein Zusatzprotokoll sei „nicht sinnvoll“. Die von der EU-Kommission geplante Ergänzung enthalte „keine weiteren Durchsetzungsinstrumente“, sie sei ein zahnloser Tiger.

Auch das globalisierungskritische Netzwerk Attac sagt Nein. „Das EU-Mercosur-Abkommen in seiner jetzigen Form gehört zu einer überholten Handelspolitik des 20. Jahrhunderts“, meint Roland Süß, Mitglied des Attac-Koordinierungskreises. Nach dem Amtsantritt des linken brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva sei ein Neustart der Beziehungen zu Lateinamerika nötig, kein Weiter-so nach Art des klassischen postkolonialen Nord-Süd-Handels, Rohstoffe gegen Industrieprodukte.

Völlig anders sieht das die deutsche Industrie. Sie schielt nicht nur auf einen großen Absatzmarkt für Autos, sondern hofft auch auf die Erschließung und den Import kritischer Rohstoffe, wie sie etwa für Batterien gebraucht werden: Kupfer, Silber und Lithium. Wer die Abhängigkeit von China verringern wolle, komme an Mercosur nicht vorbei, heißt es beim Institut der Deutschen Wirtschaft, aber auch in der Bundesregierung in Berlin. Ähnliche Töne hört man in Brüssel: Es gehe nicht mehr nur um Handel, sondern auch um die Geopolitik.

Um die Widerstände zu überwinden, greift EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis neuerdings zu einem weiteren Argument: Europa müsse den Unternehmen in Lateinamerika beim Übergang in eine klimaneutrale Wirtschaft helfen. Dies gehe aber nur mit dem Abkommen, so Dombrovskis. Würde man es neu verhandeln, so könnten Jahre vergehen, sagt er mit Blick auf den EU-Lateinamerika-Gipfel am 17. und 18. Juli in Brüssel. Bis dahin, so seine Hoffnung, soll der Deal stehen.

Eric Bonse