Das Fundament der Ausbeutung

«Nie wieder werde ich Möbel von Ikea kaufen», schwor ich mir, als ich kürzlich vor einem Umzug meine Wohnung entrümpelte. Alle Möbel, die ich entsorgte, waren von Ikea: Zwar nur wenige Jahre in Gebrauch, fielen sie schon fast in sich zusammen. Oder sie gefielen mir schlicht nicht mehr.

Ich nahm mir also vor, neue und schönere Möbel zu kaufen.

Instagram zeigte mir immer Werbung von fancy Möbelmarken an, und ich fand dort auch schöne Bücherregale. Kostenpunkt: knapp 2000 Franken. Spätestens als ich mein Bankkonto unter die Lupe nahm und mein Freund mich zu fragen begann, was denn aus den Büchern in den unzähligen Kisten auf dem Boden werden solle, gab ich nach und setzte auf Bewährtes: Ikea-Regale! Neutral in der Optik, schlichtes Design, weisse Farbe – und billig. So billig, dass ich mir Lieferung und Montage für 200 zusätzliche Franken auch gleich dazu gebucht habe.

Nur gerade 36 Stunden später ruft mich eine unbekannte Nummer an, und eine Stimme sagt: «Wir werden uns verspäten, wir kommen heute nicht nach mit den Lieferungen!» Dreissig Minuten später stehen zwei junge Männer in unserer Wohnung. Untereinander sprechen sie Spanisch, sie wirken sehr gestresst und sehen übermüdet aus. Ich biete ihnen ein Glas Wasser an, das sie schnell leeren. Auf dem Rücken tragen sie fünfzig Kilo aufs Mal. Als ich sage, dass es mir leid tue, dass wir keinen Lift hätten, sagt der eine: «Das hier ist nichts. Wir hatten soeben eine Bestellung von über 500 Kilo, die wir in der Altstadt fünf Stockwerke hinauftragen mussten.» Nach dem Zusammenbauen der Regale und dem Unterschreiben der Dokumente machen wir Smalltalk, und der eine Arbeiter sagt: «Bei uns sind alle aus Spanien oder aus dem Kosovo.»

Eines war klar: Diese Arbeiter waren noch nicht lange in der Schweiz. Es waren keine Secondos. Sie sind vielleicht vor ein paar Monaten aus Spanien hierhergekommen, um die Jobs zu machen, die die Schweizer:innen nicht machen wollen. Und wenn man sie nicht mehr braucht, kann man ihre Verträge kündigen, und je nach Situation müssen sie zurück in ihr Land, weil sie hier keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben. Noch immer machen migrantische Arbeiter:innen die Jobs, die sonst keiner machen will. Und das nicht nur bei Ikea.

Bei Lidl traf ich vor allem auf Frauen aus Deutschland. Eine 50-jährige Kurdin aus Deutschland hatte Rückenschmerzen und sah schrecklich aus. Sie erzählte mir, dass sie die Kisten von Paletten im Lager runternehmen und in den Laden einsortieren müsse. Die Paletten sind über zwei Meter hoch beladen, sie war lediglich einen Meter fünfzig. Auf der Baudemo in Zürich letztes Jahr traf ich zwei Italiener aus Deutschland. Der eine ist auch dort aufgewachsen. Sie waren über 45 Jahre alt und teilten sich ein kleines Zimmer und arbeiteten auf der Baustelle. Ihre Familien waren in Deutschland,­­­­­ und sie sahen sie nur einmal im Monat.

Die Schweizer:innen tun gerne so, als ob die Ausbeutung der sogenannten Gastarbeiter:innen der Vergangenheit angehöre. Unter dem Saisonnierstatut lebten die arbeitenden Männer getrennt von ihren Familien. Sie bauten hier Häuser und Strassen oder schufteten in Fabriken. Ihre Frauen und Kinder mussten sie zurücklassen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch die spanischen Arbeiter, die in meiner Wohnung standen, ihre Familie noch nicht in die Schweiz holen konnten. Vielleicht wird es Jahre dauern? Und was, wenn ihnen in der Zwischenzeit gekündigt wird oder ihr temporärer Vertrag ausläuft? Müssen sie dann zurückgehen?

Existenzangst und Unsicherheit sind nach wie vor das Fundament von Ausbeutung.

An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Sie ist Gewerkschafterin, Vorstandsmitglied des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Dolma ist 32 Jahre alt und lebt in  Zürich. 

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Kommentare

Kommentar von Igarulo

Sa., 16.03.2024 - 13:02

Eben. Aber die, die die teuren Möbel fabrizieren, machen das auch zu einem schlechten Lohn. Der Kapitalismus fördert eben das Kapital. Nicht den Arbeiterin. Der Unternehmer der funktionierenden Firma wird reich, weil die Angestellten gerade so durchkommen. Mehr oder weniger. Was wäre eigentlich, wenn alle Unternehmer würden?

Kommentar von _Kokolorix

So., 17.03.2024 - 18:26

So ein System gibt es auf dem Bau schon. Die Vergabe an Subunternehmen geht oft so weit, dass am Ende der Kette die Ich-AG steht. Diese Ich-AGs tragen das ganze Risiko, bei minimalen Gewinnen und Null Skaleneffekt. Die grossen General-Unternehmen beuten diese entrechteten Einzelkämpfer gnadenlos aus, wie sie es mit Angestellten niemals tun könnten, weil Angestellte eben doch Rechte haben. Unternehmer haben nichts dergleichen. Ihr Wohlergehen hängt ausschliesslich davon ab, ob sie sich am Markt durchsetzen und genügend Profit machen, um entsprechende wirtschaftliche Macht aufzubauen. Erst diese wirtschaftliche Macht ist dann durch die Justiz abgesichert.