Bundesrat lehnt Wiedergutmachung ab: Schachzug für die Schweizer Antisemiten

Der Schweizerische Bundesrat hat am Montag beschlossen, eine Wiedergutmachung für den ehemaligen jüdischen Flüchtling Joseph Spring abzulehnen, um die vom Bundesrat gleichentags in die Vernehmlassung geschickte 7-Milliarden-Stiftung «Solidarische Schweiz» vor antisemitischen Angriffen zu schützen. Der politische Schachzug hat etwas Gespenstisches, doch WoZ-Redaktor Stefan Keller ist Autor des in der Reihe WoZ im Rotpunktverlag erschienenen Buches «Grüningers Fall.» Der St. Galler Polizeikommandant Paul Grüninger hatte zur Zeit des Zweiten Weltkriegs hunderten wenn nicht tausenden von jüdischen Flüchtlingen das Leben gerettet, indem er sie illegal in die Schweiz einreisen liess. Deswegen wurde er entlassen und juristisch verfolgt. Stefan Kellers Recherche trug massgeblich zu seiner posthumen Rehabilitierung bei. Anscheinend war er im Bundesrat mit vier zu drei Stimmen mehrheitsfähig (gegen den Widerstand von Couchepin, Dreifuss, Leuenberger), und so hat nun der 71-jährige Spring, der im australischen Melbourne lebt, einen scharfen Eindruck von den heutigen Schweizer Verhältnissen erhalten. Die Zustände von früher kannte er ja schon.

Joseph Spring ist im November 1943 zusammen mit seinen beiden Cousins Sylver und Henri Henenberg von der Schweizer Grenzwache als Gefangener an die Nazis ausgeliefert worden. Weil die drei jüdischen Flüchtlinge falsche Papiere besassen, die sie als «Arier» auswiesen, übergaben die Schweizer Beamten den Deutschen auch gleich noch ihre echten Pässe, mit denen sie um Asyl nachgesucht hatten: Damit die SS auch sicher merkte, wen sie da vor sich hatte. Der 14-jährige Sylver und der 21-jährige Henri sind bei der Ankunft in Auschwitz sofort vergast worden. Der damals 16-jährige Joseph Spring überlebte Auschwitz und andere Lager sowie zwei Todesmärsche.

Zur Behandlung der Juden in Deutschland waren den Schweizer Behörden im November 1943 genügend Details bekannt, sogar über die Verbrennungskapazitäten der Krematorien von Auschwitz hätte man im Bundeshaus Auskunft geben können, und natürlich wussten die Schweizer Beamten, was für Leichen das waren, die in Auschwitz so massenhaft beseitigt wurden. Der Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei benutzte in internen Schreiben spätestens ab September 1943 den Begriff «Vernichtungslager», dessen Bedeutung ihm absolut klar war, und er liess weiterhin Juden zur Vernichtung abschieben.

Die Grenzwächter bei La Cure im waadtländischen Jura, die unter der Führung eines Oberleutnants Fournier die drei Flüchtlinge zu ihren Mördern brachten, waren ebenfalls nicht ahnungslos. Wahrscheinlich haben sie mit der nationalsozialistischen «Juden-Politik» ein bisschen sympathisiert, oder, was auch möglich ist, sie erfüllten einfach gehorsam ihre Befehle und wollten mit einer zusätzlichen List dafür sorgen, dass die Flüchtlinge nicht noch einmal über die Grenze kamen. Die Ausschaffungsbefehle, welche diese Grenzwächter aus Bern erhielten, sind häufig damit gerechtfertigt worden, dass eine Aufnahme jüdischer Flüchtlinge dem Antisemitismus in der Schweiz Auftrieb geben würde – einem zwar «berechtigten», aber «unseres Landes unwürdigen» Antisemitismus, wie der Bundesrat schon 1938 festhielt.

Mit seinem Entscheid gegen den Juden Joseph Spring hat sich der Schweizer Bundesrat in diese Tradition seiner Vorgänger gestellt. Dazu passt auch die bundesrätliche Erklärung, Springs Anspruch auf eine finanzielle Entschädigung sei «durch Zeitablauf» längst «verwirkt» und ausserdem «materiellrechtlich nicht begründet», denn die Schweiz habe sich «im Gegensatz zum Naziregime keines Kriegsverbrechens» schuldig gemacht. Dazu passt das verklemmte Deutsch in Sätzen wie diesem: «Auch wenn der geschilderte Sachverhalt menschlich zutiefst betroffen macht, stellt nach rechtlicher Beurteilung das Verhalten der Schweizer Grenzbehörde keine Gehilfenschaft zum Völkermord dar.» Dazu passt die strolchenhafte Ausrede von Finanzminister Kaspar Villiger in diversen Interviews, man könne doch «solche Fälle nicht einfach mit einer Zahlung abgelten». Ja wie denn sonst?

Bundesrat Kaspar Villiger hat, wie wir wissen, ein sehr persönliches Problem mit der Geschichte. Er hat Vorfahren, die mit «Heil Hitler!» grüssten, die sich an «Arisierungen» beteiligten. Er kann selber nichts dafür, aber er hat vor einigen Jahren doch viel unternommen, um dieses düstere Kapitel seiner Familienfirma zu vertuschen. Als es im Bundesrat um die Schweizer Geschichte jener Zeit ging, hätte Villiger konsequenterweise in den Ausstand treten sollen. Stattdessen trug er uns 1995 eine zweifelhafte Entschuldigung für den vom Bundesrat 1938 verschuldeten «Juden-Stempel» vor (bei wem sich entschuldigen, bei den Toten?), die nachher sein PR-Manager Daniel Eckmann in Pressegesprächen sofort relativiert und teilweise zurückgenommen hat und in welcher die Geschäfte der Schweizer Wirtschaft mit Nazideutschland sogar verteidigt wurden.

Im Entscheid zum Fall Spring – und davor zum Fall des 1942 ausgeschafften Charles Sonabend – waren Kaspar Villiger und sein PR-Manager federführend. Der Finanzminister hätte jetzt zeigen können, dass es ihm mit der Entschuldigung eben doch ernst gewesen ist und dass sie nicht bloss zum Schein erfolgte. Aber Joseph Spring hat leider keine grosse Lobby. Hinter Spring stehen keine internationalen Organisationen und keine US-Behörden. Der Fall Spring gefährdet nicht den Schweizer Finanzplatz, er zielt nur auf das republikanische Gewissen. Es ist kein Fall für Opportunisten.

Der Gesamtbundesrat hätte am Montag die Gelegenheit gehabt, mit der Politik seiner Vorgänger zu brechen. Die Präsentation des Entwurfes der Solidaritätsstiftung wäre ein idealer Anlass gewesen. Nun hat der Bundesrat die Stiftungsidee, die ja ohnhin aus purer Verzweiflung entstand, von Anfang an unglaubwürdig gemacht. Wer soll ihm helfen, sie zu verwirklichen? Die durch eine Ohrfeige an einen alten Herrn in Melbourne beschwichtigten Antisemiten?
Der Fall Joseph Spring kommt jetzt vor Bundesgericht, und die Schweizer Öffentlichkeit ist ihn noch lange nicht los.

WoZ-Redaktor Stefan Keller ist Autor des in der Reihe WoZ im Rotpunktverlag erschienenen Buches «Grüningers Fall.» Der St. Galler Polizeikommandant Paul Grüninger hatte zur Zeit des Zweiten Weltkriegs hunderten wenn nicht tausenden von jüdischen Flüchtlingen das Leben gerettet, indem er sie illegal in die Schweiz einreisen liess. Deswegen wurde er entlassen und juristisch verfolgt. Stefan Kellers Recherche trug massgeblich zu seiner posthumen Rehabilitierung bei.