Joseph Spring und die Schweizer Behörden: «Was war das denn, wenn nicht ein Verbrechen an der Menschlichkeit?»

Wer hätte denn gedacht, dass Joseph Sprung zurückkehrt. Dass er eines Tages hier in der Schweiz sitzt, in einem Zürcher Restaurant, und seine Geschichte erzählt bei Kaffee und bei Kuchen. Mit leiser und freundlicher Stimme, mit hoher Konzentration spricht Joseph Sprung von den Vergasungen, vom ständigen Hunger, vom täglichen Überlebenskampf ohne Hoffnung, vom älteren Freund auf der Schreibstube des Lagers, der ihm mehrmals das Leben rettete, vom Geruch brennender Leichen, der bis in die Werkhallen der IG-Farben drang, als der SS die Krematorien nicht mehr ausreichten, oder von den Wanzen in den Baracken, die mit dem gleichen Gas umgebracht wurden wie sonst die Menschen. Dazwischen fragt er, ob ich noch ein Stück Kuchen möchte, er bestellt einen weiteren Kaffee für uns beide, macht einen lustigen Witz und lacht sehr herzlich – um genau dort weiterzureden, wo er sich vorhin unterbrochen hat.

Ich überprüfe schnell das Tonband, Herr Spring. Damit Sie es nicht ein zweites Mal erzählen müssen.
Ja, bitte, sagt Joseph Sprung, der heute Joseph Spring heisst, aber da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Das kann ich hundertmal erzählen. Im schlimmsten Fall kann ich Ihnen das von Australien aus nochmals schicken, das ist kein Problem.

Ein unverschämtes Anliegen

Joseph Spring ist im Januar einundsiebzig Jahre alt geworden. Am 26. Januar 1998 hat sein Rechtsanwalt einen Brief an den Schweizerischen Bundesrat geschickt und 100 000 Franken Schadenersatz für ihn gefordert. Joseph Spring ist nicht der erste ausgeschaffte Jude, der von den Schweizer Behörden einen Schadenersatz verlangt. Am 18. Februar 1998 schrieb der Bundesrat dem ehemaligen Flüchtling Charles Sonabend, der sein Gesuch im Juni 1997 einreichte: «Die Schweizer Bundesbehörden haben sich im Gegensatz zum Naziregime weder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit noch eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht.»

Eine Entschädigung von 100000 Franken für die Ausschaffung der Eltern Sonabends in den Tod, im Sommer 1942, lehnte der Bundesrat ab. Im September 1997 andererseits bezahlte der Regierungsrat des Kantons Basel Stadt dem ehemaligen Flüchtling Eli Carmel 50 000 Franken Wiedergutmachung für eine Ausschaffung nach Deutschland im Oktober 1939; Carmel hat das Konzentrationslager Sachsenhausen überlebt.

Joseph Sprung war in Auschwitz. Er ist im November 1943 aus der Schweiz abgeschoben worden; man hat ihn zweimal ausgeschafft, das erste Mal trieben ihn die Schweizer Grenzwächter nur ins besetzte Frankreich zurück, das zweite Mal übergaben sie ihn direkt den Deutschen, zusammen mit seinen zwei Cousins und einem vierten Begleiter, der als einziger nicht in ein Vernichtungslager kam. Joseph Sprung war damals 16 Jahre alt, seine Cousins waren 14 und 21, sie hiessen Sylver und Henri Henenberg; der ältere, Henri, kam direkt aus einem belgischen Sanatorium. Man hatte es also auf Schweizer Seite mit zwei Kindern und einem Schwerkranken zu tun. Ihr französischer Begleiter hiess Pierre Rollin, er war 20 und offenbar kein Jude; warum Rollin in die Schweiz fliehen wollte, hat ihn Sprung nie gefragt.

Joseph Sprung besass amtlich ausgestellte französische Papiere, die nicht der Wahrheit entsprachen. Nach diesen Papieren hiess er Joseph Dubois und stammte aus Metz. Auch seine Cousins besassen falsche Papiere, doch die waren etwas weniger perfekt und kamen vom Schwarzmarkt; sie hätten einer genauen Überprüfung, nach Ansicht Joseph Sprungs, nicht lange standgehalten. Eben deshalb wollte Sprung die beiden in Sicherheit bringen; er tat dies auf Bitten eines dritten Cousins, mit dem er sich seit mehr als einem Jahr als deutscher Emigrant in Frankreich durchschlug. Joseph Sprung war in Berlin geboren und 1939 mit Mutter und Bruder nach Belgien geflohen. Als dort die Deportationen begannen, hatte die Mutter den älteren Sohn nach Frankreich geschickt, den jüngeren versteckte sie in einem Kloster und tauchte unter. Vor dem Versuch, seine beiden Cousins zu retten, hatte Joseph Sprung in Bordeaux für eine Schweizer Firma gearbeitet, die im Auftrag der deutschen «Organisation Todt» Bunker für Unterseeboote baute.

Joseph Sprung und seine Cousins überquerten die Grenze bei La Cure im Waadtländer Jura. Beim ersten Mal gingen sie sofort auf einen Schweizer Bauernhof und fragten nach dem nächsten Telefonapparat, weil sie jemanden in Freiburg kannten. Der Bauer sagte, er bringe sie zum Telefon und brachte sie statt dessen zum Zoll zurück. Das zweite Mal gingen sie nachts einer Bahnlinie entlang ins Landesinnere. Sie waren schon einige Kilometer durch die verschneite Gegend gelaufen, als weiter unten auf der Strasse jemand rief: «Hände hoch!»

Einziger Hinweis auf Joseph Sprung und seine Begleiter im Schweizerischen Bundesarchiv:
«An die Direktion des Zollkreises V.: (…) La Cure, 18.11.43. Verhaftung und Refoulement auf dem erlaubten Weg von:
-Rollin P. 23, ohne Beruf, Katholik, Belfort;
-Henenberg H. 22, Lederarbeiter, Jude, Brüssel;
-Henenberg, S. 29, Schüler, Jude, Brüssel;
-Sprung, J. 27, Schüler, Jude, Brüssel.
Alle vier wurden bereits einmal zurückgewiesen durch unseren Service am 13.11.
Der Kommandant des Korps, i. A., Plt. Fournier.»

Als die drei jüdischen Flüchtlinge vor den Schweizer Grenzbeamten standen, überreichten sie diesen ihre richtigen Papiere, die sie unter Lebensgefahr mit sich schmuggelten, weil sie glaubten, sich als Juden ausweisen zu müssen, um in der Schweiz Asyl zu erhalten. Als die drei Gefangenen nachher in Frankreich vor den deutschen Beamten standen, gaben sie natürlich ihre falschen Namen an. Da lachten die Deutschen und lasen ihnen Details aus ihren richtigen Pässen vor, die sie von den Schweizer Beamten zugesteckt bekommen hatten.

Es genügte den Schweizern nicht, sie den Mördern zu übergeben. Die Mörder sollten auch wissen, wen sie da hatten.

Mitwisser, Mittäter

Über die planmässige Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden wussten die Schweizer Behörden im November 1943 genug. Schon im Juli 1942, also sechzehn Monate vor der Auslieferung Joseph Sprungs und seiner Cousins, hatte Robert Jezler, einer der führenden Mitarbeiter der Polizeiabteilung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement, an seinen Vorgesetzten Heinrich Rothmund geschrieben: «Die übereinstimmenden und zuverlässigen Berichte über die Art und Weise, wie die Deportationen durchgeführt werden, und über die Zustände in den Judenbezirken im Osten sind derart grässlich, dass man die verzweifelten Versuche der Flüchtlinge, solchem Schicksal zu entrinnen, verstehen muss und eine Rückweisung kaum mehr verantworten kann. (…) Besonders schlimm scheint heute die Lage der Juden in den von Deutschland besetzten Gebieten, im Protektorat, in Holland, Belgien und Nordfrankreich zu sein. Die dort lebenden Juden wissen keine Stunde, ob sie in der folgenden Stunde deportiert, als Geisel verhaftet oder gar unter irgendeinem Vorwand hingerichtet sind.»
Im Sommer 1942 war auf den Schweizer Amtsstuben der erste authentische Bericht eingegangen, wonach bei den Deutschen ein Gesamtplan bestehe, alle Juden zu vernichten. Diese Nachricht wurde von einem deutschen Industriellen dem Redaktor des jüdischen Nachrichtendienstes JUNA in Zürich anvertraut und ist vom Genfer Vertreter des World Jewish Congress, Gerhart M. Riegner, an die Alliierten übermittelt worden. Den Schweizer Bundesrat informierte Riegner auf dem Umweg über Vertreter der christlichen Landeskirchen.

Anfang Dezember 1942 hatten jüdische Organisationen in 29 Ländern zu einem Trauertag für die ermordeten europäischen Jüdinnen und Juden aufgerufen. «In Tel Aviv gingen 100 000 Menschen auf die Strasse, die hebräischen Zeitungen erschienen mit einem Trauerrand. In New York legten 500 000 jüdische Arbeiter und Angestellte ihre Arbeit für zehn Minuten nieder. Überall in der freien Welt forderten jüdische und nichtjüdische Zeitungen Massnahmen der Alliierten gegen den Völkermord», schreibt der Historiker Gaston Haas (siehe Fussnote). Am 17. Dezember 1942 hatten die Regierungen der UdSSR, Grossbritanniens und der USA zusammen mit der französischen Résistance eine Erklärung veröffentlicht, in welcher die Ausrottung der Juden in «allen besetzten Gebieten in Europa» beschrieben und scharf verurteilt wurde. Den für die Vernichtung Verantwortlichen wurde eine Bestrafung nach dem Krieg angekündigt, und die anglikanischen Bischöfe in Grossbritannien appellierten an die neutralen Länder, die todgeweihten Juden aufzunehmen.

Im Eidgenössischen Politischen Departement in Bern (heute EDA) war die Existenz von Vernichtungslagern spätestens seit Mai 1943 durch diplomatische Rapporte bekannt, wie Gaston Haas nachweist. Selbst die Namen einzelner Lager wie Belzec, Sobibor, Treblinka oder Auschwitz kannte man in den Berner Büros. Ja sogar über die Verbrennungskapazitäten der Krematorien in Auschwitz lagen seit Mai 1943 Berichte vor. Man wusste, dass dort unermesslich viele Leichen beseitigt wurden, man wusste, was für Leichen es waren. Rothmund persönlich, der Chef der Fremdenpolizei, gebrauchte im September 1943 den Begriff «Vernichtungslager» in einer internen Notiz, und er liess keinen Zweifel daran, dass er die Bedeutung dieses Begriffes verstand.
Und es wurde weiter abgewiesen und ausgeschafft: mehr als vierhundert Personen allein in jenem November 1943.

Sprüche einer Verbrechergesellschaft

Was denn das gewesen sei, fragt Joseph Spring, wenn es kein Kriegsverbrechen, kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war, dass man der SS nicht nur die Opfer brachte, sondern auch deren Papiere, die sie erst zu Opfern machten? Auch aus den ängstlichsten Überlegungen heraus wäre das nicht nötig gewesen. Niemand habe die Grenzbeamten dazu gezwungen, es habe keinen Grund dafür geben können, ausser Bösartigkeit.

Von den Deutschen wurden die drei Juden zunächst in Bourg-en-Bresse interniert, dann brachten zwei Gendarmen sie ins Durchgangslager Drancy bei Paris. In Drancy sah der Sechzehnjährige etwas für ihn vollständig Unvorstellbares, wie er sagt, etwas Traumatisierendes, und er beschreibt es so: Die ganzen Wände vollgeschmiert mit letzten Nachrichten von Deportierten. Alte und Junge, Frauen, Männer und Kinder auf dem Boden liegend und verzweifelnd, weil sie nie mehr freikommen würden, weil alles normale Leben jetzt für immer aufgehört hatte. Burschen und Mädchen sah er, die sich vor aller Augen ein letztes Mal liebten. – Am 17. Dezember 1943 folgte die Deportation von Drancy nach Auschwitz. Die Brüder Henenberg, der 14jährige Sylver und der 21jährige kranke Henri, wurden am Tag ihrer Ankunft getötet. Die SS hatte ihnen erklärt, wenn sie zu schwach seien, um vom Zug ins Lager zu laufen, sollten sie sich melden, sie würden im Lastwagen dorthin gefahren.

Joseph Sprung ging zu Fuss ins Lager. Er überlebte die Zwangsarbeit für die IG-Farben, die regelmässigen Selektionen überlebte er, den Todesmarsch von Auschwitz nach Gleiwitz im Januar 1945, die dreizehntägige Fahrt ohne Wasser im offenen Güterwagen nach Dora (Mittelbau). Die Zwangsarbeit in einem Stollen im Harzgebirge, wo eine unterirdische Fabrik eingerichtet werden sollte. Und einen weiteren Todesmarsch, in dessen Verlauf er sich versteckte und entkam.
1946 ist Joseph Sprung nach Australien ausgewandert und hat seinen Namen geändert. Heute führt er mit seiner Frau ein kleines Reisebüro in Melbourne. Im Internet liest er Schweizer Zeitungen und verfolgt die Diskussion um die Schweizer Vergangenheit. Er las auch die Berichte über den Bundesratsentscheid zum Fall Sonabend. Wenn eine der Ausreden von Schweizer Politikern und Diplomaten laute, man dürfe doch nicht immer vom Geld reden, und 100000 Franken wären für soviel Leiden ohnehin zu wenig – nur weil sie gar nichts bezahlen und keine Schuld anerkennen wollten, sagt Joseph Spring, dann seien das «Argumente einer Verbrechergesellschaft».

Gaston Haas: «'Wenn man gewusst hätte, was sich drüben im Reich abspielte …'. Was man in der Schweiz von der Judenvernichtung wusste 1941-1943». Verlag Helbing & Lichtenhahn. Basel 1994.