Joseph Spring gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft: Die Unehrenhaftigkeit der Schweizer Regierung wird natürlich nicht verschwinden

Am Morgen des 21. Januar 2000 wird der in Australien lebende Joseph Spring vor die II. öffentlichrechtliche Abteilung des Schweizerischen Bundesgerichts in Lausanne treten, und vermutlich am Nachmittag desselben Tages werden fünf Bundesrichter und eine Bundesrichterin verkünden, ob Springs Forderung nach einer Wiedergutmachung vom Bundesrat erfüllt werden muss oder nicht.

Es ist durchaus möglich, dass Joseph Spring in Lausanne Recht bekommt. Sicher aber ist Spring auch im Recht, falls er vor dem Bundesgericht verliert. Oder wer könnte ernsthaft behaupten, die Schweizer Grenzwächter hätten «Recht gehabt», die Joseph Spring vor 56 Jahren, in einer Novembernacht 1943, den Deutschen übergaben und ihn, der einen «arischen» französischen Pass besass, bei den Nazis als Berliner Juden denunzierten?

Worum geht es also in diesem Prozess, wenn der moralische Gewinner schon im Voraus feststeht? Und was bedeutet es eigentlich, falls Joseph Spring auch juristisch siegt?

Ende der Scheinheiligkeit

Der Schweizerische Bundesrat hat nach der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus bekanntlich fast fünfzig Jahre gebraucht, bis er sich im Sommer 1994 erstmals von der schweizerischen Flücht- lingspolitik jener Zeit distanzierte. Der Bundesrat brauchte ein weiteres Jahr, um sich für diese Politik – beziehungsweise für ein paar ihrer besonders krassen Aspekte – öffentlich zu entschuldigen. Dabei hatte es keineswegs am Wissen gefehlt: Nicht weil man erst jetzt von den damaligen antijüdischen und rassistischen Verfügungen und Massnahmen erfuhr, bat die Regierung 1995 deren Opfer um Verzeihung, sondern weil ihr dies vorher nie nötig erschienen war. Das bundesrätliche Schuldeingeständnis erwies sich auch bald als unverbindliche Geste und Heuchelei: Offenbar hatte niemand daran gedacht, dass einzelne Opfer noch leben und den Bundesrat beim Wort nehmen könnten – bis zuerst Charles Sonabend und dann Joseph Spring auftauchten.
Dass ein von der Schweiz an die Nazis ausgelieferter, verratener und deshalb nach Auschwitz deportierter ehemaliger Flüchtling überhaupt die nervtötende Prozedur einer Bundesgerichtsklage auf sich nehmen musste, dass ihm der Bundesrat dies nicht ersparte und ihm nicht von sich aus eine Wiedergutmachung zusprach (wie der Kanton Basel-Stadt es im Fall Eli Carmel 1997 nach einigem Zögern tat), ist an sich schon schäbig genug. Darüber hinaus versuchte das Eidgenössische Finanzdepartement auch noch, dem Kläger mit lügenhaften Eingaben die Glaubwürdigkeit abzusprechen und ihn zu verleumden.

Es wurde suggeriert, Spring sei gar nicht ausgeliefert worden, obwohl das Departement über ein Exposé des Bundesarchivs verfügte, welches die Auslieferung klar bestätigte.

Wenn Joseph Spring in Lausanne gewinnt, wird die Unehrenhaftigkeit der Schweizer Regierung natürlich nicht verschwinden, aber sie wird gegen die Wahrhaftigkeit und den Mut eines 73-jährigen kleinen Reisebürobesitzers aus Melbourne unterliegen. Das ist als Symbol doch schon sehr viel.

Demarkationslinie des Gewissens
Nun hat die WoZ vor gut vier Jahren ähnlich geschichtsoptimistische Sätze veröffentlicht, als es um die juristische Rehabilitierung des Polizeihauptmanns und Flüchtlingsretters Paul Grüninger ging. Damals anerkannte das St. Galler Bezirksgericht, dass Grüninger als Beamter zu Recht seine Befehle missachtete und Dokumente falsch ausfüllte, um bedrohte Flüchtlinge einreisen zu lassen. Im Hinblick auf den Fall Grüninger, der sich 1938/39 ereignete, schrieb der Basler Strafrechtsprofessor Mark Pieth im März 1995, dass Beamte «nicht einfach zusehen» dürften, «wie ein wehrloses Opfer von einem Mörder verfolgt, geschweige denn von einem verbrecherischen System – und sei es ein staatliches – mit dem Tode bedroht» werde. Der Gehorsamspflicht eines Schweizer Beamten stehe auch eine «Rettungspflicht» gegenüber und, so ging aus Pieths Gutachten hervor: Eine Missachtung dieser Rettungspflicht könne «Strafbarkeit nach sich ziehen».
Im Fall Spring und in hunderten, tausenden weiteren Fällen haben die Schweizer Behörden der Verfolgung nicht nur «einfach zugesehen», sondern sie aktiv gefördert zu einem Zeitpunkt, als sie über die nationalsozialistischen Verbrechen gut Bescheid wussten. Auch die Frage der Mitverantwortung und Schuld wurde damals weniger zurückhaltend erörtert als heute.

«Es gibt auch eine Demarkationslinie des Gewissens», schrieb beispielsweise der Redaktor der «Thurgauer Arbeiterzeitung» an die Zensurbehörde, als diese im September 1942 einen kleinen Artikel zur Judenvernichtung und zur Flüchtlingspolitik beanstandete. «Die berichteten Ereignisse sind von einer solchen Natur, dass jeder Journalist, der sich in den Dienst der Verteidigung menschlicher Werte stellt, in der heiligen Pflicht steht, sie anzuprangern», schrieb der Redaktor der «Sentinelle» in La Chaux-de-Fonds zur gleichen Zeit an die entsprechende Behörde seiner Region. Und ein Jahr später, am 27. Oktober 1943, zwei Wochen vor der Auslieferung des Juden Joseph Spring an die Deutschen, führte der Präsident der evangelischen Synode des Kantons Zürich, der bürgerliche Oberrichter Max Wolff, vor den Mitgliedern des Kirchenparlaments Folgendes aus: «Man sage ja nicht, unser Land habe sein Möglichstes getan. Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland etwa zwei bis drei Millionen Juden umgebracht worden sind, ist die Aufnahme von 11 000 Flüchtlingen in der Zeit seit dem vorletzten Sommer (...) gewiss eine sehr ungenügende Rettungsaktion. Hätte man zehn- oder zwanzigmal so viel aufgenommen, so hätte man vielleicht von einem Opfer des Schweizervolkes reden können. Die Frage, inwieweit wir Schweizer uns mittelbar mitschuldig gemacht haben an den Judenverfolgungen in Deutschland, kann jeder an der Hand dieser Tatsachen selbst beantworten.»

Man kann nicht einen Grüninger freisprechen und einem Spring danach sagen, er sei legal ausgeliefert worden. Wenn Joseph Spring in Lausanne gewinnt, wird der Schweiz von ihrem eigenen höchsten Gericht Beihilfe zum Völkermord bescheinigt. Nicht nur Spring würde daraus etwas Gerechtigkeit widerfahren, sondern auch jenen Leuten, die sich damals wehrten, die sich vielleicht zu wenig wehrten, jedoch nicht einfach geschwiegen haben wie die meisten.