Seenotrettung in Griechenland: Die Anklage bröckelt

Nr. 50 –

Nach sieben Jahren müssen sich 24 Flüchtlingshelfer:innen vor Gericht verantworten – während die Beweislage immer dünner wird.

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Sarah Mardini und Seán Binder sitzten auf einem kleinen Boot am Strand
«Man wünscht sich fast, es gäbe mehr Beweise gegen uns»: Sarah Mardini und Seán Binder, als sie noch als Seenotretter:innen tätig waren. Foto: Privat

Auf dem Vorplatz des Gerichtsgebäudes in Mytilini auf der Insel Lesbos ist es an diesem Donnerstagmorgen ruhig. Dunkle Wolken ziehen über das Meer am Ende der Strasse. Die Gespräche der Anwält:innen, Angeklagten, Unterstützerinnen sowie Gerichtsbeobachter, die sich kurz vor 9 Uhr vor den Eingangstreppen versammelt haben, sind gedämpft. Nichts deutet darauf hin, dass es sich um eines der grössten Verfahren gegen humanitäre Hilfe und Seenotrettung in Europa handelt: keine Banner, keine Proteste. Unterstützer:innen hatten zuvor darum gebeten, auf Demonstrationen zu verzichten. Ihre Hoffnung: dass das Warten ohne lautstarke Proteste in diesen Tagen nach sieben Jahren ein Ende nimmt. Dabei geht es für die 24 Angeklagten an diesem Tag um bis zu zwanzig Jahre Haft.

Im Jahr 2023 beschrieb eine Untersuchung des EU-Parlaments das Verfahren als «den grössten Fall der Kriminalisierung von Solidarität in Europa». Seit 2018 sorgt der Prozess für internationale Schlagzeilen. Unterdessen hat sich die Lage auf dem Ägäischen Meer verändert – jener Meerenge zwischen der Türkei und Lesbos, der nur wenige Seemeilen von der türkischen Küste entfernten Insel, auf der 2015 eine halbe Million Menschen ankamen. Zwar erreichen noch immer Menschen aus Konfliktregionen wie dem Sudan, Afghanistan oder Somalia Lesbos, doch sind heute an den Küsten keine humanitären Ersthelfer:innen mehr, die sie empfangen.

Hundert Tage im Gefängnis

Es war ein Dienstag im August 2018, als der damals 23-jährige Seenotretter Seán Binder auf Lesbos von der Polizei festgenommen wurde – in der kleinen Polizeistation der Hafenstadt, wo er nach seiner Kollegin Sarah Mardini sehen wollte, die kurz zuvor am Flughafen bei ihrer Abreise aufgehalten worden war. Auch Nassos Karakitsos, damals Feldleiter der Organisation Emergency Response Centre International (ERCI), bei der Binder und Mardini volontiert hatten, wurde in Untersuchungshaft gebracht. Über hundert Tage verbrachten sie hinter Gittern.

Weitere 21 Helfende werden angeklagt, darunter auch der niederländische Pensionär Pieter Wittenberg, der im Mai 2016 erstmals auf die Insel kam. Er folgte seiner Frau Liesbeth Bloemendal. Das Paar hatte ein Jahr zuvor seinen jüngsten Sohn bei einem Autounfall verloren und begann, sich humanitär zu engagieren. Wittenberg überwachte mit einem Fernglas die Küsten und versorgte ankommende Flüchtende. Auch er volontierte bei ERCI – der Organisation, die später ins Visier der Behörden geriet.

Die griechische Polizei erklärte 2018, die Helfenden hätten mithilfe maritimer Funksignale und verschlüsselter Messenger-Nachrichten Informationen über Fluchtrouten gesammelt und den Funkverkehr der Küstenwache abgehört, um Menschen illegal nach Griechenland zu bringen. Und obwohl einige Anklagepunkte wie etwa der Spionagevorwurf vor dem ersten Gerichtsverfahren 2023 fallen gelassen wurden, wiegen die Vorwürfe, die an diesem Donnerstag verhandelt werden, weiterhin schwer: Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Geldwäsche, Beihilfe zur illegalen Einreise.

Der Fall war von Anfang an von einer dünnen Beweislage und zahlreichen Verfahrensfehlern geprägt: Immer wieder fehlten Übersetzungen der Anklageschriften; 2021 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage vor einem nicht zuständigen Gericht, und 2023 wies das Berufungsgericht von Mytilini die Anklage an die Staatsanwaltschaft zurück. Auf der Insel und bei Menschenrechtsorganisationen ist man sich einig: Der Fall sei ein weiterer Schauprozess zur Kriminalisierung freiwilliger Hilfe, wie sie auch gegen Seenotrettungsorganisationen in Italien oder Malta geführt worden seien. Kurz vor Beginn des jetzigen Prozesses forderte Wies De Graeve, Leiter von Amnesty International Belgien: «Die Kriminalisierung von Menschen, die Mitgefühl für diejenigen zeigen, die aufgrund von Krieg, Gewalt oder anderen Notlagen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, muss aufhören.»

Anwalt Zacharias Kesses, der 4 der 24 Angeklagten – darunter auch Seán Binder und Sarah Mardini – vertritt, macht am ersten Tag des Prozesses deutlich, dass es nach all diesen Jahren weiterhin an Beweisen fehlt: Es sei nicht ersichtlich, wie seine Mandant:innen eine illegale Einreise ermöglicht haben sollen. Bereits zuvor hatten die Universitäten, die die Helfer:innen zu dieser Zeit besuchten, bestätigt, dass beide bei sechs der elf Fälle, in denen sie wegen Schmuggel angeklagt sind, nicht in Griechenland waren. Auch andere Anwält:innen weisen darauf hin, dass ihre Mandant:innen zu den in der Anklage genannten Zeitpunkten nicht auf der Insel waren. Einige arbeiteten für andere Organisationen, andere waren lediglich Teil einer Whatsapp-Gruppe, die als Beleg dafür dienen soll, Teil einer kriminellen Vereinigung zu sein.

Am Freitag, dem zweiten Prozesstag, regnet es so stark vor dem Gerichtsgebäude, dass die Lichter im Saal die Dunkelheit wie kleine Monde erhellen. Es sind noch halb so viele Beobachter:innen erschienen wie am Tag zuvor. Die Stimmung vor dem Richter:innenpult ist angespannt. Wie vage die Vorwürfe sind, zeigt sich bei einer Aussage des Leiters der Ermittlungen, der Teile der Anklageschrift nochmals vorträgt. Er berichtet, die Küstenwache habe ihn 2018 informiert, als Binder und Mardini in einem von ERCI gemieteten Fahrzeug angehalten worden seien. Die Handys und Laptops der beiden Helfer:innen wurden beschlagnahmt und sie erstmals verhört. Aus Chatverläufen gehe hervor, dass die Angeklagten gewusst hätten, wann die Boote angekommen seien. Sie sollen Polizei und Küstenwache abgehört haben, und Positionen der Küstenwache an die Migrant:innen weitergegeben haben. Doch auf Nachfrage der Verteidigung, woher die Angeklagten diese Informationen hatten, weicht der Ermittler aus. Man habe nach der Quelle gesucht, aber nichts gefunden. «Die Angeklagten sollen es uns sagen», fordert er.

Kurz nach der Verhandlung sagt Anwalt Kesses gegenüber der WOZ: «Nach sieben Jahren und trotz sämtlicher Zeugenaussagen hat bis heute niemand substanzielle Beweise gegen die Angeklagten vorgelegt. Noch immer stehen wir einem dominierenden Narrativ gegenüber, das Organisationen, die humanitäre Hilfe leisten, zu Kriminellen erklärt.»

Fünfzehn Tote im Oktober

Tatsächlich fehlt heute jene Hilfe, die einst entlang der Küste präsent war: Der Oktober wurde mit mehreren Schiffbrüchen zum tödlichsten Monat des Jahres; fünfzehn Menschen starben in der Ägäis – Nachrichten, die in Europa kaum noch ein Publikum erreichen. Und auch wer nur wenige Meter vom Meer entfernt lebt, bekommt kaum mehr mit, wenn ein Boot die Küste erreicht. Gleichzeitig ist das Ägäische Meer heute so überwacht wie kaum zuvor: Die griechischen Behörden investieren in Drohnen mit Wärmebildkameras und maritime Überwachungstechnik und setzen auf die Unterstützung der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Immer wieder war Frontex bei illegalen Pushbacks der griechischen Küstenwache anwesend, griff laut Recherchen jedoch nicht ein, soll teilweise selbst beteiligt gewesen sein oder die Pushbacks nicht gemeldet haben. Auch der derzeitige Frontex-Chef, Hans Leijtens, räumte gegenüber Medien in diesem Jahr ein, dass die bisherige Haltung seiner Behörde gegenüber Griechenland möglicherweise zu einem «Gefühl der Straffreiheit» beigetragen habe.

Es ist 14.30 Uhr, als sich die Richter:innen erheben. Sie müssen einen Flug auf die Nachbarinsel Chios erreichen. Seenotretter Binder steht kurz nach Prozessende vor den Schwingtüren des Gerichtssaals. Im Rückblick auf die Verhöre und die vorgebrachten Zeugenaussagen sagt er: «Soweit ich das beurteilen kann, ist die Anklage in Stücke zerfallen.» Die Verhöre sind zwar an diesem Tag vorbei, beendet ist der Prozess jedoch nicht. Er wird am 15. Januar 2026 fortgesetzt. «Man wünscht sich fast, es gäbe mehr Beweise gegen uns, um zu rechtfertigen, dass wir so lange gewartet haben und dass Menschen wegen einer Angelegenheit, die in dreissig Minuten hätte geklärt werden können, ertrunken sind», sagt Binder.