Im Affekt: Immer schön breit bleiben

Man könnte meinen, wir sitzen alle im selben Boot – also: im selben Zug. Morgens noch verschlafen müde Augen, abends bildschirmstrapazierte rote Augen, froh um jeden freien Sitzplatz, der einem ins Auge sticht. Stattdessen sind da demonstrativ dem Fenster zugewandte Köpfe, möglichst jeden fragenden Blick nach freien Plätzen übersehend. Oder vor dreister Unschuld triefende Rucksäcke und Aktentaschen, gemütlich auf dem Fensterplatz. Vor allem aber stehen einem die Knie von breit gespreizten Männerbeinen entgegen.
Mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre der ICE um acht Uhr morgens das private Homeoffice, breiten sich gewisse Herren (nicht alle, aber die meisten, die es tun, sind es: Männer) aus. Als besässen sie ein biologisch determiniertes Geburtsrecht auf die ganze Bank – wenn nicht sogar auf alle vier Plätze.
«Manspreading» im ÖV stammt gefühlt aus einer anderen Ära. Aufgekommen in den sozialen Medien der zehner Jahre, wurde der Begriff 2015 in den Oxford English Dictionary aufgenommen. Anders als «Mansplaining» ist Manspreading heute nicht Teil des deutschen Wortschatzes. Zumindest wenn es nach dem Duden geht. Daran hält man sich natürlich in der Schweiz und verfolgt die Sache in helvetischer Manier: mit demonstrativem Wegschauen und der Hoffnung, dass alle ihren Frust respektvoll runterschlucken und verzweifelt weiter nach einem Sitzplatz suchen. Männer, die zu viel Raum einnehmen? Nein, das gibt es hier nicht. Also habe ich mich, seit ich unter die Pendler:innen gegangen bin, einer mikrofeministischen Reclaiming-Strategie in den Zügen verschrieben. Aus Protest setze ich mich prinzipiell neben jene Geschäftsmänner, die mit chauvinistischer Nonchalance auf ihrem Raum bestehen. Demonstrativ gezuckert frage ich: «Ist hier noch frei?», und beobachte mit Genugtuung das leicht passiv-aggressive Wegräumen von Taschen und Verstauen von Beinen. Dafür harre ich auch gern eine Stunde lang neben einem Anzugträger aus, der das Abteil mit Zoom-Calls unterhält.
Wenn sich eine nette junge Frau mit Brille im Zug neben Sie setzt, wissen Sie, was Sache ist.