Das unerwartete Revival

Die Digitalisierung mag alle Lebensbereiche bestimmen – doch in den letzten Jahren nahm das Interesse an der Analogfotografie stetig zu. Ein Besuch im Zürcher Szeneladen «Ars-Imago» zeigt, wer die Maschinerie in einer scheinbar stillgelegten Branche am Laufen hält.
Früher Samstagmorgen beim Lochergut in Zürich: vom alltäglichen Trubel im belebten Quartier ist noch nicht viel zu spüren. Auch im alten, leicht heruntergekommenen Haus an der Badenerstrasse 211 ist die Ruhe der vergangenen Nacht noch präsent. Über der Eingangstür des Ladenlokals im Erdgeschoss prangt auf schwarzem Hintergrund der Name des dort ansässigen Fotografie-Fachgeschäftes «Ars-Imago». Der Verkaufsraum ist noch dunkel, nur eine Lichterkette beleuchtet das rechte Schaufenster in einem dezentem Weisston. Kurz nach zehn Uhr kommt ein Herr mit Rossschwanzfrisur strammen Schrittes angelaufen. Es ist Gunnar, einer der Fotospezialisten, der sein Wissen im «Ars-Imago» zum Besten gibt. Er schliesst ein Einbruchsschutzgitter und anschliessend die Eingangstüre auf – und schon stehen wir im kleinen Ladenlokal.
Gunnar verschwindet im hinteren Teil des Geschäftes. Gedämpft hört man noch den Strassenverkehr. Auf der linken Seite des Ladens türmen sich in einem Regal Filmschachteln jeglicher Art bis unter die Decke: Kodak T-Max 400, Ilford Delta 3200, Kodak Gold. Wahrscheinlich hat es so, vor noch nicht einmal 25 Jahren, in jedem Fotogeschäft ausgesehen. Der Platz, um sich im Laden frei zu bewegen, ist begrenzt. Es stapeln sich gefüllte Kartonschachteln, Verkaufsartikel und verschiedene Kuriositäten über die kleine Ladenfläche verteilt. Ein Indiz für den geplanten Umzug des Fotogeschäftes.*
Gunnar taucht plötzlich wieder auf. «Hier war schon lange ein Fotogeschäft», erzählt er, während er lässig an der Ladentheke lehnt. «Es hiess Foto Ernst und wurde von drei Generationen derselben Familie geführt.» Doch die Inhaber hatten den Laden in den letzten Jahren kaum noch betrieben. «Da war nichts ausser einer Telefonnummer an der Tür. Wenn man was wollte, konnte man anrufen.» Vor knapp fünf Jahren zog der Familienbetrieb Ernst schliesslich aus, und kurze Zeit später öffnete «Ars-Imago» seine Türen. Seither läuft das Geschäft gut. Täglich beraten die MitarbeiterInnen die KundInnen, verkaufen Filme und nehmen Kameras zur Reparatur entgegen.
Handwerk mit Überraschungen
Das Interesse an der Filmfotografie hat in den letzten paar Jahren wieder spürbar zugenommen, bestätigt Gunnar. Beispielsweise verzeichnet die Firma Kodak, die noch Fotofilme produziert, in den letzten fünf Jahren ein gewaltiges Wachstum des Umsatzes.
Während Gunnar den Laden für den Verkaufsstart herrichtet, sinniert der Fotograf und Verkäufer über das Phänomen der neu entfachten Analog-Fotografie-Szene. «Es ist schon anzunehmen, dass es eine Modeerscheinung ist, aber es tut auf jeden Fall der ganzen Branche gut.» Die Filmfotografie sei aber nie wirklich tot gewesen, merkt Gunnar an, während er Regale auffüllt. Vor allem Künstler seien grosse Verfechter dieses Handwerks. «Denen geht es nicht nur um das fertige Bild, sondern um den ganzen Prozess. Das ist auch das, was mir wichtig ist. Das Handwerkliche gefällt mir viel mehr als die Arbeit mit Computerprogrammen.»
Zwischen den Schachtelinseln schaut Gunnar auf und sagt: «Bei der analogen Fotografie gibt es vielleicht weniger Möglichkeiten, dafür aber mehr Überraschungen. Und Überraschungen haben schon ein sehr grosses kreatives Potenzial.»
Es ist kurz nach zehn Uhr, als ein Transporter eines Paketlieferdienstes vorfährt. Gunnar öffnet die Tür, spricht mit dem Boten und nimmt eine erste Charge Pakete entgegen. Während er die neuen Kartonschachteln zu den bereits vorhandenen dazustellt, erzählt er weiter von den kreativen Möglichkeiten der Filmfotografie. Er präsentiert Beispiele von Fotos, die sein Arbeitskollege mit positivem Fotopapier geschossen hat. Bei diesem Prozess wird das Foto direkt auf ein speziell chemisch behandeltes Papier projiziert, ohne dass man ein Negativ entwickeln und vergrössern muss. «So entstehen echte Unikate.»
Als die alte Ladentüre aufgestossen wird, ruft Gunnar «Ciao Claudio!». Der ältere Herr in Winterjacke und mit Schiebermütze, der den Laden betritt, ist Kameramechaniker aus Leidenschaft. Mit einem verschmitzten Blick findet er seinen Weg durch den Laden zu Gunnar und gesellt sich, nach einer kurzen Begrüssung mit italienischem Akzent, zur Unterhaltung.
Sondermüll und Raritäten
Im Raum steht nun die Frage, ob Filmfotografie mit dem Trend zu einem nachhaltigeren Lebensstil vereinbar ist. Denn bei der Produktion und Entwicklung der Filme werden viele Chemikalien eingesetzt. «Wenn man das etwas vertieft, könnte man eigentlich sagen, dass die ganze Fotografie nicht wirklich umweltfördernd ist», findet Gunnar. «Die digitale Fotografie ist da nicht viel besser, weil die Elektronik auch gewisse Umweltschäden verursacht.» Wenn man die Chemikalien fachgerecht entsorge, sprich zur Sondermüllabgabe bringe, entstehe für die Umwelt kaum ein grosser Schaden. Gunnar meint, dass jeder für sich selbst herausfinden müsse, wo man beim Umweltschutz konsequent sei und wo man eine Ausnahme mache. Wichtig sei sicher, sich diese Gedanken zu machen.
Dafür kann die Lebensdauer einer analogen Kamera die einer digitalen um ein Vielfaches übersteigen. Mechanische Komponenten können mit ein wenig Know-how und geschickten Händen gut reproduziert oder repariert werden. «Zum Beispiel war vor einem halben Jahr jemand hier im Laden mit einer alten Rolleiflex-Spiegelreflexkamera. Die muss Jahrzehnte lang in einem feuchten Raum gelegen haben.» Die lange Lebensdauer der Geräte schätzt Gunnar sehr. «Ich kann mit einer Kamera, die siebzig Jahre alt ist, noch in zwanzig Jahren fotografieren, oder ich finde jemanden, der sie mir reparieren kann. Mit einer modernen Digitalkamera funktioniert das sicherlich nicht.»
Kameras statt Geld
Claudio, der ursprünglich Polymechaniker gelernt hat, repariert schon seit etlichen Jahren allein Kameras. Er hat damals einfach angefangen, seine eigenen Kameras zu reparieren. Eine klassische Ausbildung gab es nicht, und heutzutage sei es noch viel schwieriger. Er beginnt in alten Zeiten zu schwelgen und schweift ab in träumerisches Rückblenden auf die Branche. Doch an Arbeit mangelt es ihm auch heute nicht, er repariert hauptsächlich Kameras aus der Schweiz, früher wurden ihm auch noch Kameras aus dem Ausland zugeschickt. Durch jahrelange Erfahrung kennt er jegliche Marken und weiss, wie man sie repariert. Modernere vollelektronische Filmkameras zu reparieren lohnt sich aber meistens vom Aufwand her nicht mehr.
Nebenbei vertraut uns Claudio an, dass er gewisse Kameras nicht einmal mehr öffnen muss, um zu wissen, was daran kaputt ist. In seiner 17-Quadratmeter-Werkstatt in Horgen hat er eine kleine Sammlung von Werkzeugen und Messgeräten, die er aufkaufen konnte, als in den neunziger Jahren immer mehr seiner Konkurrenten ihre Werkstätte schlossen. Er kann uns noch die genauen Namen und Orte nennen, und wir merken, dass in dieser Branche jeder jeden kennt. Auch zum vormaligen Besitzer des Ladens, in dem wir stehen, hatte Claudio eine enge Beziehung. Aus den Erzählungen geht weiter hervor, dass ein exzessives Sammelverhalten in der Filmfotografiebranche sehr verbreitet ist. Auch Claudio hat über 200 Kameras. «Wenn ich eine sehe, die Freude macht, dann kaufe ich sie, auch wenn ich sie gar nicht brauche», bemerkt er mit seinem schelmischen Lächeln. Nach eigener Aussage wurde er für seinen Einsatz beim Räumungsverkauf von Foto Ernst nicht in Franken, sondern mit Kameras entlohnt.
Die Kundschaft wird jünger
In den letzten Jahren wurde Claudios Kundschaft immer jünger. Früher waren es eher ältere Leute, die ihre alten Kameras repariert haben wollten, oder Profis, die das Format immer noch gegenüber der Digitalfotografie bevorzugten. Doch mit dem Analog-Trend, der auch in der Zeit von Social Media anhält, kommen immer mehr Jugendliche mit Kameras, die sie geerbt oder in einem Brocki gefunden haben. Auf Instagram hat der Hashtag «Filmphotography» über 25,7 Millionen Erwähnungen.
Doch dieser Trend ist janusköpfig. Für Kamerahersteller ist es immer noch eine zu kleine Nische, um wieder mit einer Produktion neuer Filmkameras zu beginnen. Das Damoklesschwert des Aussterbens des Mediums Film schwebt über allen in der Branche. Die Kameras, die sich im Umlauf befinden, sind limitiert, und gewisse Schäden lassen sich nicht mehr reparieren. Mit dem schwindenden Personal für Reparaturen wird diese Problematik nur noch verstärkt.
Mit einem gewissen Stolz erzählt Claudio, dass es nicht so einfach sei, Kameras zu reparieren. Doch auch die Angst, dass diese Handwerkskunst verloren gehen könnte, hört man seiner sonst heiteren Stimme an. Die Ausbildung eines Lehrlings sei für ihn momentan keine Option, meint er mit einem gewissen Bedauern. Den Aufwand könne er sich einfach nicht leisten, da er all seine Finanzen mit seinem Reparaturgeschäft trage. Wenn er pensioniert wäre, dann vielleicht. Doch auch dann müsse der Lernende Vorwissen und ganz viel Motivation mitbringen. «Statt in den Fernseher muss er lieber in eine Kamera schauen», meint er und lacht.
Vor dem Lokal, in das wegen Corona nur drei KundInnen dürfen, hat sich mittlerweile eine kleine Schlange gebildet. Es ist eine Mischung von Kunden aus den unterschiedlichsten Milieus, die hierherkommen, um einen neuen Film zu kaufen oder ihre entwickelten Bilder abzuholen. In ihren Augen sieht man eine Vorfreude auf das Ergebnis, die man selbst einmal gespürt haben muss, um sie zu verstehen.
In der immer noch frischen Morgenluft scheinen die Informationen und Geschichten kein Ende zu nehmen. Draussen vor dem Geschäft verrät uns Claudio, der wegen der Geräuschkulisse aus Autolärm und Stimmengewirr schwierig zu verstehen ist, mit vor Leidenschaft funkelnden Augen kleine Details über Kameras, die einem niemals auffallen würden. Nach einer Weile beenden wir unser Gespräch. Aber nicht, bevor er uns noch herzlich zu sich in die Werkstatt eingeladen hat.
*Das Fotofachgeschäft «Ars-Imago» befindet sich nach dem Umzug an der Josefstrasse 53 in Zürich.