Wichtig zu wissen: Mit bunten Bildern durchs Netz
Ruedi Widmer über Chlorhühner, 1996 und Internetterror
Der vom Bundesrat ausgehandelte Chlorhühnervertrag mit den USA wird die Schweizer:innen bald auch so aussehen lassen wie den Präsidenten im Weissen Haus.
Ich freue mich auf den Verzehr von Chlorhühnern. Sie verstärken meine körperliche Meinungsfreiheit und lassen mich vielleicht bald noch mehr Charlie-Kirk-Videos anschauen, als ich dieses Wochenende schon sah.
Dass Ü25 ausserhalb des rechten Spektrums diesen weltweit betrauerten Rechtsextremisten nicht kannten, liegt daran, dass die globale Deutungshoheit nicht mehr bei der Politik oder den klassischen Medien, sondern bei Tiktok-Influencer:innen liegt, gesteuert von Washington, Moskau und Peking.
Auch die Wirklichkeit findet auf diesen Kanälen statt. Jung und Alt sind rund um die Uhr auf Youtube im Algorithmus der Hassprediger gefangen. Letzten Sonntag folgten 115 000 englische offensichtliche Chlorhuhnkonsument:innen dem Ruf des britischen Rechtsradikalen Tommy Robinson und gingen in London gegen Ausländer:innen und die Labour-Regierung auf die Strasse. Social Media hat die Welt komplett verändert.
Kürzlich sah ich einen ZDF-Ausschnitt von 1996 mit einem Gespräch über das neue Internet. Der Moderator («Was ist das Internet überhaupt?») liess sich vom Experten über Modem, News Groups, E-Mail und das World Wide Web aufklären. «Am bekanntesten ist das World Wide Web, das sind diese bunten Bilder, die einem helfen, durchs Netz zu kommen, da kann man shoppen, oder man ist in der Lage, ein Tauchparadies über den PC zu erkunden, man kann sogar eine Reise buchen übers Internet.»
Das Internet lief 1996 so langsam wie eine Weinbergschnecke, man musste sich mit einem Modem einwählen, und der Einwahlton war schrecklich, sicherlich komponiert von einem Zwölftonmusiker. Bilder brauchten so lange fürs Laden, wie man heute fürs Erstellen von 10 000 KI-Bildern braucht. Es war eine gemütliche Zeit. Raves wurden noch mit Handzetteln und Flyern angekündigt, nicht per Whatsapp.
«Was ist ein Flyer überhaupt?», höre ich da fragen. Flyer, das sind diese bunten Zettel, die man immer so bekam, die einem halfen, durchs Nachtleben zu kommen, da konnte man sehen, welche Partys wo und wann sind, oder die aktuelle Grafikwelt erkunden, man konnte sie sogar selber herstellen ohne KI. Die Street Parade hatte damals das Dreifache von 105 000 Teilnehmenden.
Oft zierte diese Flyer futuristische Grafik. Mittlerweile muss man sagen, die Zukunft war nur als Versprechen gut – die Technologie führt uns direkt in eine orwellsche Diktatur, was 1996 niemand für möglich hielt.
Den heutigen Internetzustand zeigt dieses Beispiel: In der Facebook-Gruppe «Unser Planet» mit Infos zu Erde und Natur steht unter einem Beitrag, der den geologischen Bruch zwischen der west- und der ostafrikanischen Platte erklärt (der in fernster Zukunft zu einem neuen Meer führen wird), schon im obersten Kommentar: «Naja … war alles schon mal da … Wer in der Schule, in Geografie aufgepasst hat, weiss, dass es so etwas schon gab in der Erdgeschichte. Die Natur wird noch andere Dinge tun ohne dass wir das verhindern können.»
Ist etwas mit einem Globusbild illustriert, zieht das sofort rechte Bots an, die sogleich «Anti-Klimawandel»-Narrative streuen, obwohl der Artikel nichts damit zu tun hat, sondern einfach informiert, und zwar jene, die neugierig sind und denen das Leben weltweit zunehmend zur Hölle gemacht wird.
Solche Situationen empfinde ich wie unangenehme Begegnungen auf der Strasse. Die öffentliche Sicherheit ist im Netz nicht mehr gegeben, der Terror der rechten Gurus der «Meinungsfreiheit» lähmt alles. Diskussionen darüber sind natürlich unergiebig, denn diese Personen geben auch keine Antworten.
Das ist das Vermächtnis von Kirk.
Ruedi Widmer isst Hühner in Winterthur.