Die Uhr tickt für Tiktok

Le Monde diplomatique –

Tiktok-Chef Shou Zi Chew vor dem Handelsausschuss des US-Kongresses, 23. März 2023
Tiktok-Chef Shou Zi Chew vor dem Handelsausschuss des US-Kongresses, 23. März 2023 Foto: ALEX BRANDON/picture alliance/AP

Anfang der 2000er Jahre war in der westlichen Welt die Empörung groß, als die Chinesen Google, Facebook und Twitter in ihrem Land verboten. Heute wollen die Amerikaner Tiktok verbieten. Die Kurzvideo-App gehört dem chinesischen Unternehmen Bytedance und wird in China unter dem Namen Douyin betrieben. Einen von drei Vorstandsposten bekleidet Wu Shugang. Er ist Mitglied der Kommunistischen Partei, was als Zeichen gewertet wird, dass die international erfolgreiche App politisch kontrolliert wird.

Mehr als 1 Milliarde Menschen weltweit nutzen Tiktok – die unter 25-Jährigen im Schnitt 90 Minuten täglich. Die App ist ein kommerzieller Erfolg: 2022 lag der Jahresumsatz über 10 Milliarden Euro, der Wert des Start-ups wird auf 61 Milliarden Euro geschätzt. In letzter Zeit wird das Unternehmen jedoch immer heftiger von US-Politiker:innen und Medien angegriffen.

„Tiktok stellt ein Problem dar“, erklärte am 4. März die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre. Drei Tage später legten zwei Senatoren – ein Demokrat und ein Republikaner – einen Gesetzentwurf vor; der „Restrict Act“ soll ein komplettes Verbot der Plattform in den USA ermöglichen. Laut dem Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan würde das die US-Regierung ermächtigen, „bestimmte ausländische Staaten daran zu hindern, technologische Dienste in einer Weise zu nutzen, die die vertraulichen Daten der Amerikaner und unsere nationale Sicherheit bedroht“.1

Weder China noch Tiktok werden namentlich genannt, aber es ist klar, dass die geplante Regelung in erster Linie auf die chinesische App abzielt. US-Staatsbedienstete dürfen Tiktok bereits jetzt nicht mehr auf ihren Diensttelefonen installieren.

Warum aber steht Tiktok so massiv in der Kritik – obwohl sich sein Geschäftsmodell nicht grundsätzlich von denen seiner US-Konkurrenten unterscheidet? Eine Plattform zum Teilen von kurzen Videoclips erscheint zunächst harmlos. Aber wie alle sozialen Netzwerke hat Tiktok das Potenzial zur Einflussnahme, das – so Washingtons Befürchtung – in die falschen Hände geraten und zur politischen Gefahr werden könnte.

Wie auf Facebook, Instagram oder Youtube verbreiten Influencer:innen ihre Meinungen und die Nutzer:innen geben durchs Scrollen, Klicken und Kaufen persönliche Daten preis. Obwohl diese Daten in der Theorie zwar vertraulich behandelt werden, bekommen wir täglich unaufgefordert Werbung oder andere Inhalte angezeigt. Diese basieren auf Algorithmen, die die Plattformen streng geheim halten.

Was zuallererst kommerziellen Interessen dient, könnte auch für politische Zwecke eingesetzt werden. Da Tiktok einem chinesischen Unternehmen gehört, fürchtet die US-Regierung, dass der chinesische Staat mithilfe der App versuchen könnte, Meinungen zu manipulieren oder sensible Daten zu sammeln. Zumal Peking dank eines 2017 erlassenen Gesetzes chinesische Unternehmen anweisen kann, persönliche Daten weiterzugeben, wenn diese für die nationale Sicherheit relevant sind.

Dieser Verdacht ist nicht ganz aus der Luft gegriffen. Im Dezember 2022 gab Bytedance zu, dass vier Mitarbeiter des Unternehmens sich unerlaubt Zugang zu den Tiktok-Nutzerdaten zweier US-Journalisten verschafft hatten, um ein internes Datenleck ausfindig zu machen. Die Mitarbeiter wurden entlassen, doch ein ungutes Gefühl blieb.

Washington weist außerdem darauf hin, dass die Algorithmen der chinesischen Tiktok-Version Douyin überwiegend Bildungsinhalte für chinesische Nutzer:innen unter 14 Jahren verbreitet. Das sei ein Hinweis darauf, dass die politische Führung in Peking ihre Hände im Spiel hat und ihren Einfluss auf den Westen ausdehnen könnte. Grundsätzlich ist es nicht ungewöhnlich, dass sich die Inhalte sozialer Netzwerke je nach geografischer Region unterscheiden. Aber bei der chinesischen App lässt Washington dieses Argument nicht gelten.

Um den Befürchtungen aus dem Westen zu begegnen, will Bytedance sein Chinageschäft von den Aktivitäten im Rest der Welt entkoppeln. Dazu hat das Unternehmen seinen Umstrukturierungsplan „Project Texas“ vorgelegt: Im Rahmen einer Partnerschaft mit dem US-Cloud-Anbieter Oracle sollen die Daten von US-Nutzer:innen in einem neuen Datenzentrum in Dallas gespeichert und so vor ausländischem Zugriff geschützt werden.

Auch in Europa sollen mehrere neue Datenzentren entstehen, zwei in Irland und eins in Norwegen. Die Unterhaltskosten der Datenzentren beziffert Tiktok auf 1,2 Milliarden Euro jährlich.

Derzeit liegt der Texas-Plan auf Eis, weil die US-Behörden ihn nicht genehmigt haben. Am 23. März 2023 musste sich Tiktok-Chef Shou Zi Chew den Fragen des Handelsausschusses im US-Kongress stellen und verteidigte den Plan, in der Hoffnung, ein Verbot der Geschäftstätigkeit vermeiden zu können. Sollte es Tiktok in den USA tatsächlich so ergehen wie dem chinesischen Gerätehersteller Huawei, dem es im November 2022 verboten wurde, in den USA Smartphones zu verkaufen, würden die europäischen Regierungen vermutlich nachziehen. Die EU-Kommission hat ihre Beschäftigten bereits Ende Februar angewiesen, die chinesische App auf ihren Dienstgeräten zu deinstallieren.

Aber ist die US-Regierung tatsächlich bereit, Millionen Menschen unter 35 ihre Lieblingsapp wegzunehmen? Wie würde die Reaktion in den sozialen Medien ausfallen? Die günstigste Lösung für die US-Behörden wäre sicherlich ein Verkauf von Tiktok an nichtchinesische Investoren oder zumindest eine strikte Trennung zwischen Tiktok und Bytedance.2

Egal wie die Sache am Ende ausgeht – für das Chinageschäft von US-Konzernen wie Apple, Microsoft und Tesla könnte sie noch erhebliche Auswirkungen haben.

Gabrielle Chou

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

1„Statement from National Security Advisor Jake Sullivan on the Introduction of the Restrict Act“, www.whitehouse.gov, 7. März 2023.

2„TikTok Considers Splitting From ByteDance If Deal With US Fails“, Bloomberg, 14. März 2023.